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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
keinen zweiten Ort wie die Burg von Athen. Hier stehen sie
auf der scharf umgränzten Hochfläche übersichtlich neben ein¬
ander, öffentliche Bauwerke sehr verschiedener Art, aber den¬
noch alle zusammengehörig, alle bezüglich auf den Dienst der
Göttin, die, mit Poseidon vereint, an heiligster Stätte verehrt
wurde; alles Werke einer Stadt, deren Geschichte die bedeu¬
tungsvollste und uns bekannteste des Alterthums ist, Werke,
die von den Griechen selbst als die höchsten Leistungen natio¬
naler Kunst angesehen wurden und welche durch zahlreiche in¬
schriftliche Urkunden beleuchtet werden. Diese Werke sind seit
hundert Jahren durch Zeichnungen und Beschreibungen be¬
kannt; sie sind seitdem wiederholt gemessen und beurtheilt
worden und nichts destoweniger auch heute noch ein uner¬
schöpfter Gegenstand der Forschung. So oft man zu ihnen
hinaufsteigt, drängen sich neue Eindrücke, neue Wahrnehmungen
auf. Der erste Eindruck kann kein anderer sein als der einer
tiefen Wehmuth. Wo mit unendlichem Aufwande von Fleiß
und Arbeit und Mitteln jeglicher Art das Vollkommenste vereinigt
war, was Menschenhände jemals geschaffen, sieht man ein
wüstes Trümmerfeld, einen Schauplatz grauenhafter Verwüst¬
ung. Erst wenn sich das Auge daran gewöhnt hat, ist es
möglich, an dem, was von Hallen, Gebälk und Giebel erhalten
ist, mit frohem Erstaunen hinauf zu blicken; man freut sich
der großen Gedanken, welche die Gründer solcher Werke beseelt
haben, der Würde und Kraft, die in jeder stämmigen Marmor¬
säule sich ausspricht, des unnachahmlichen Fleißes in der
Fügung der Steine, der bewundernswürdigen Treue im Kleinen,
auch an solchen Stellen, welche einst dem Auge ganz entzogen
waren. Aber je länger wir verweilen, um uns auf diesem
geweihten Raume einheimisch zu machen, je mehr wir das
Wesen der Sache zu erfassen suchen, um so mehr Fragen
drängen sich auf.

Lange hat man die Tempel sehr äußerlich betrachtet und
ist bei der Form stehen geblieben, indem man alle umsäulten
Gebäude für einerlei Bauwerke ansah. Tiefere Forschung
hat hier unterscheiden gelehrt und es hat eine Betrachtung

Das alte und neue Griechenland.
keinen zweiten Ort wie die Burg von Athen. Hier ſtehen ſie
auf der ſcharf umgränzten Hochfläche überſichtlich neben ein¬
ander, öffentliche Bauwerke ſehr verſchiedener Art, aber den¬
noch alle zuſammengehörig, alle bezüglich auf den Dienſt der
Göttin, die, mit Poſeidon vereint, an heiligſter Stätte verehrt
wurde; alles Werke einer Stadt, deren Geſchichte die bedeu¬
tungsvollſte und uns bekannteſte des Alterthums iſt, Werke,
die von den Griechen ſelbſt als die höchſten Leiſtungen natio¬
naler Kunſt angeſehen wurden und welche durch zahlreiche in¬
ſchriftliche Urkunden beleuchtet werden. Dieſe Werke ſind ſeit
hundert Jahren durch Zeichnungen und Beſchreibungen be¬
kannt; ſie ſind ſeitdem wiederholt gemeſſen und beurtheilt
worden und nichts deſtoweniger auch heute noch ein uner¬
ſchöpfter Gegenſtand der Forſchung. So oft man zu ihnen
hinaufſteigt, drängen ſich neue Eindrücke, neue Wahrnehmungen
auf. Der erſte Eindruck kann kein anderer ſein als der einer
tiefen Wehmuth. Wo mit unendlichem Aufwande von Fleiß
und Arbeit und Mitteln jeglicher Art das Vollkommenſte vereinigt
war, was Menſchenhände jemals geſchaffen, ſieht man ein
wüſtes Trümmerfeld, einen Schauplatz grauenhafter Verwüſt¬
ung. Erſt wenn ſich das Auge daran gewöhnt hat, iſt es
möglich, an dem, was von Hallen, Gebälk und Giebel erhalten
iſt, mit frohem Erſtaunen hinauf zu blicken; man freut ſich
der großen Gedanken, welche die Gründer ſolcher Werke beſeelt
haben, der Würde und Kraft, die in jeder ſtämmigen Marmor¬
ſäule ſich ausſpricht, des unnachahmlichen Fleißes in der
Fügung der Steine, der bewundernswürdigen Treue im Kleinen,
auch an ſolchen Stellen, welche einſt dem Auge ganz entzogen
waren. Aber je länger wir verweilen, um uns auf dieſem
geweihten Raume einheimiſch zu machen, je mehr wir das
Weſen der Sache zu erfaſſen ſuchen, um ſo mehr Fragen
drängen ſich auf.

Lange hat man die Tempel ſehr äußerlich betrachtet und
iſt bei der Form ſtehen geblieben, indem man alle umſäulten
Gebäude für einerlei Bauwerke anſah. Tiefere Forſchung
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[27/0043] Das alte und neue Griechenland. keinen zweiten Ort wie die Burg von Athen. Hier ſtehen ſie auf der ſcharf umgränzten Hochfläche überſichtlich neben ein¬ ander, öffentliche Bauwerke ſehr verſchiedener Art, aber den¬ noch alle zuſammengehörig, alle bezüglich auf den Dienſt der Göttin, die, mit Poſeidon vereint, an heiligſter Stätte verehrt wurde; alles Werke einer Stadt, deren Geſchichte die bedeu¬ tungsvollſte und uns bekannteſte des Alterthums iſt, Werke, die von den Griechen ſelbſt als die höchſten Leiſtungen natio¬ naler Kunſt angeſehen wurden und welche durch zahlreiche in¬ ſchriftliche Urkunden beleuchtet werden. Dieſe Werke ſind ſeit hundert Jahren durch Zeichnungen und Beſchreibungen be¬ kannt; ſie ſind ſeitdem wiederholt gemeſſen und beurtheilt worden und nichts deſtoweniger auch heute noch ein uner¬ ſchöpfter Gegenſtand der Forſchung. So oft man zu ihnen hinaufſteigt, drängen ſich neue Eindrücke, neue Wahrnehmungen auf. Der erſte Eindruck kann kein anderer ſein als der einer tiefen Wehmuth. Wo mit unendlichem Aufwande von Fleiß und Arbeit und Mitteln jeglicher Art das Vollkommenſte vereinigt war, was Menſchenhände jemals geſchaffen, ſieht man ein wüſtes Trümmerfeld, einen Schauplatz grauenhafter Verwüſt¬ ung. Erſt wenn ſich das Auge daran gewöhnt hat, iſt es möglich, an dem, was von Hallen, Gebälk und Giebel erhalten iſt, mit frohem Erſtaunen hinauf zu blicken; man freut ſich der großen Gedanken, welche die Gründer ſolcher Werke beſeelt haben, der Würde und Kraft, die in jeder ſtämmigen Marmor¬ ſäule ſich ausſpricht, des unnachahmlichen Fleißes in der Fügung der Steine, der bewundernswürdigen Treue im Kleinen, auch an ſolchen Stellen, welche einſt dem Auge ganz entzogen waren. Aber je länger wir verweilen, um uns auf dieſem geweihten Raume einheimiſch zu machen, je mehr wir das Weſen der Sache zu erfaſſen ſuchen, um ſo mehr Fragen drängen ſich auf. Lange hat man die Tempel ſehr äußerlich betrachtet und iſt bei der Form ſtehen geblieben, indem man alle umſäulten Gebäude für einerlei Bauwerke anſah. Tiefere Forſchung hat hier unterſcheiden gelehrt und es hat eine Betrachtung

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/43>, abgerufen am 21.11.2024.