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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Rom und die Deutschen.
Gebiets der einzelnen Nationalitäten war es der Herd aller
Bestrebungen geworden, welche die selbständige Entwickelung
der christlichen Völker zu hindern, ihre geistige und bürgerliche
Freiheit ihnen zu verkümmern suchen.

Und dennoch -- wie schwer wurde es den Deutschen sich
von Rom loszumachen! Als Luther nach Rom kam, war er
römischer, als die Römer. Mit der Andacht des frömmsten
Pilgers begrüßte er die Kuppeln der dreimal heiligen Stadt,
verehrte alle Reliquien und glaubte in der Hauptstadt des
Reiches Gottes Gott selbst näher zu sein. Auch ihm ist es
nicht gelungen, das ganze Vaterland frei zu machen, und wenn
die Forderung: "Rom soll deutsch sein!" auch lange aufge¬
geben ist, so ist doch die andere: "die Deutschen sollen römisch
sein!" noch keineswegs verklungen. Denn noch heute giebt
es bei uns eine Partei, deren wahre Heimath jenseit der
Alpen liegt und welcher die Ehre des Vaterlandes gleichgültig
ist gegen die Interessen römischer Priestermacht. Aber das
Volk hat sich losgesagt, und je fester die Bande waren, welche
es mit Rom verknüpft gehalten hatten, um so mehr mußte
die Befreiung von Rom der Anbruch eines neuen Volkslebens
sein, nicht nur auf dem kirchlichen Gebiete und in der staat¬
lichen Entwickelung, sondern auch in allgemeiner Bildung.

Auch in Kunst und Wissenschaft herrschten die Italiäner;
sie sahen auf die Barbaren im grauen Norden mit vornehmem
Mitleide herab, und die Deutschen ließen sich diese Betrach¬
tungsweise in aller Demuth gefallen. Sie waren freilich voll
von unverdrossenem Eifer, sie hatten schon unter den Ottonen
die römische Kunstwelt kennen gelernt und bildeten in der Hei¬
math römische Denkmäler nach, wie Bischof Bernward in
Hildesheim; aber sie blieben zurück und wurden von Neuem
weit überflügelt, als in Italien die große Bewegung der
Geister begann, nämlich die Wiederbelebung des Alterthums,
als Petrarca mit der Scholastik brach und die Idee einer aus
dem Alterthume genährten, freien menschlichen Bildung mit
seinem feurigen Geiste erfaßte. Diese Idee war der Keim
einer neuen Weltbildung, aber zunächst konnte sie nur in Ita¬

Rom und die Deutſchen.
Gebiets der einzelnen Nationalitäten war es der Herd aller
Beſtrebungen geworden, welche die ſelbſtändige Entwickelung
der chriſtlichen Völker zu hindern, ihre geiſtige und bürgerliche
Freiheit ihnen zu verkümmern ſuchen.

Und dennoch — wie ſchwer wurde es den Deutſchen ſich
von Rom loszumachen! Als Luther nach Rom kam, war er
römiſcher, als die Römer. Mit der Andacht des frömmſten
Pilgers begrüßte er die Kuppeln der dreimal heiligen Stadt,
verehrte alle Reliquien und glaubte in der Hauptſtadt des
Reiches Gottes Gott ſelbſt näher zu ſein. Auch ihm iſt es
nicht gelungen, das ganze Vaterland frei zu machen, und wenn
die Forderung: »Rom ſoll deutſch ſein!« auch lange aufge¬
geben iſt, ſo iſt doch die andere: »die Deutſchen ſollen römiſch
ſein!« noch keineswegs verklungen. Denn noch heute giebt
es bei uns eine Partei, deren wahre Heimath jenſeit der
Alpen liegt und welcher die Ehre des Vaterlandes gleichgültig
iſt gegen die Intereſſen römiſcher Prieſtermacht. Aber das
Volk hat ſich losgeſagt, und je feſter die Bande waren, welche
es mit Rom verknüpft gehalten hatten, um ſo mehr mußte
die Befreiung von Rom der Anbruch eines neuen Volkslebens
ſein, nicht nur auf dem kirchlichen Gebiete und in der ſtaat¬
lichen Entwickelung, ſondern auch in allgemeiner Bildung.

Auch in Kunſt und Wiſſenſchaft herrſchten die Italiäner;
ſie ſahen auf die Barbaren im grauen Norden mit vornehmem
Mitleide herab, und die Deutſchen ließen ſich dieſe Betrach¬
tungsweiſe in aller Demuth gefallen. Sie waren freilich voll
von unverdroſſenem Eifer, ſie hatten ſchon unter den Ottonen
die römiſche Kunſtwelt kennen gelernt und bildeten in der Hei¬
math römiſche Denkmäler nach, wie Biſchof Bernward in
Hildesheim; aber ſie blieben zurück und wurden von Neuem
weit überflügelt, als in Italien die große Bewegung der
Geiſter begann, nämlich die Wiederbelebung des Alterthums,
als Petrarca mit der Scholaſtik brach und die Idee einer aus
dem Alterthume genährten, freien menſchlichen Bildung mit
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[46/0062] Rom und die Deutſchen. Gebiets der einzelnen Nationalitäten war es der Herd aller Beſtrebungen geworden, welche die ſelbſtändige Entwickelung der chriſtlichen Völker zu hindern, ihre geiſtige und bürgerliche Freiheit ihnen zu verkümmern ſuchen. Und dennoch — wie ſchwer wurde es den Deutſchen ſich von Rom loszumachen! Als Luther nach Rom kam, war er römiſcher, als die Römer. Mit der Andacht des frömmſten Pilgers begrüßte er die Kuppeln der dreimal heiligen Stadt, verehrte alle Reliquien und glaubte in der Hauptſtadt des Reiches Gottes Gott ſelbſt näher zu ſein. Auch ihm iſt es nicht gelungen, das ganze Vaterland frei zu machen, und wenn die Forderung: »Rom ſoll deutſch ſein!« auch lange aufge¬ geben iſt, ſo iſt doch die andere: »die Deutſchen ſollen römiſch ſein!« noch keineswegs verklungen. Denn noch heute giebt es bei uns eine Partei, deren wahre Heimath jenſeit der Alpen liegt und welcher die Ehre des Vaterlandes gleichgültig iſt gegen die Intereſſen römiſcher Prieſtermacht. Aber das Volk hat ſich losgeſagt, und je feſter die Bande waren, welche es mit Rom verknüpft gehalten hatten, um ſo mehr mußte die Befreiung von Rom der Anbruch eines neuen Volkslebens ſein, nicht nur auf dem kirchlichen Gebiete und in der ſtaat¬ lichen Entwickelung, ſondern auch in allgemeiner Bildung. Auch in Kunſt und Wiſſenſchaft herrſchten die Italiäner; ſie ſahen auf die Barbaren im grauen Norden mit vornehmem Mitleide herab, und die Deutſchen ließen ſich dieſe Betrach¬ tungsweiſe in aller Demuth gefallen. Sie waren freilich voll von unverdroſſenem Eifer, ſie hatten ſchon unter den Ottonen die römiſche Kunſtwelt kennen gelernt und bildeten in der Hei¬ math römiſche Denkmäler nach, wie Biſchof Bernward in Hildesheim; aber ſie blieben zurück und wurden von Neuem weit überflügelt, als in Italien die große Bewegung der Geiſter begann, nämlich die Wiederbelebung des Alterthums, als Petrarca mit der Scholaſtik brach und die Idee einer aus dem Alterthume genährten, freien menſchlichen Bildung mit ſeinem feurigen Geiſte erfaßte. Dieſe Idee war der Keim einer neuen Weltbildung, aber zunächſt konnte ſie nur in Ita¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/62>, abgerufen am 23.11.2024.