Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

hätte, um jenem schwierigen k einen indogermanischen Ahn-
herrn zu verschaffen. Behauptet freilich hat man, es gäbe
auch auf deutlicher erforschbaren Gebieten sichere Fälle so
eigenthümlicher Zeugung einer Masse von Formen nach dem
Vorbilde eines einzigen. Brugmann, Morphol. Unters. III, 49,
nimmt an, die italienischen Perfecten auf -etti, z. B. vendetti,
fremetti, seien sämmtlich Nachbildungen von ital. stetti = lat.
steti. Allein das beruht auf einem Irrthum. In Wirklichkeit
gibt es, was ich Schuchardt (Vocalismus des Vulgärlateins
I, 35) entnehme, im Italienischen 29 Perfecta auf -etti, welche
jedoch nicht alle unmittelbar von stetti ausgehen. Die auf -detti,
13 an der Zahl, wie vendetti = vendidi, credetti = credidi,
stammen vielmehr vom lat. -didi. Höchstens der harte Explosiv-
laut könnte seine Quelle in dem ganz vereinzelten stetti haben
(vgl. Osthoff M. U. IV, 3). Von da verbreitete sich allerdings
die Bildung weiter. Aber schon im Spätlateinischen finden
sich Missbildungen wie das jenem credidi, vendidi nachgebil-
dete pandidi. Diese Formen sind offenbar die Vorläufer der
weiter wuchernden italienischen Perfecta auf -detti. Um küh-
nere Annahmen dieser Art glaubhaft zu machen, hat Brugmann
Morphol. Unters. I, 82 unter Zustimmung Delbrück's Einleitung
S. 107 auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass durch
allmähliche Fortsetzung der Analogiebildung aus einigen we-
nigen, ja sogar aus einer einzigen Form nach und nach eine
grosse Menge sich hätte bilden können. Aber hier gilt das
Wort Misteli's, "möglich ist vieles". Es fragt sich aber, was
wahrscheinlich ist, und das wird man von solchen Annahmen
gewiss nicht sagen, auch wenn wirklich, wie an den ange-
führten Stellen behauptet wird, in einzelnen neueren slawi-
schen Sprachen die Endung -mi, -m der 1. Sing, sich von vier
älteren Formen der Art auf alle Conjugationsclassen verbreitet
haben sollte. Es scheint mir überdies sehr gewagt, aus Vor-
gängen eines einzelnen Sprachkreises Schlüsse auf ein andres
Gebiet zu ziehn, wie das, welches uns hier zunächst beschäf-

hätte, um jenem schwierigen κ einen indogermanischen Ahn-
herrn zu verschaffen. Behauptet freilich hat man, es gäbe
auch auf deutlicher erforschbaren Gebieten sichere Fälle so
eigenthümlicher Zeugung einer Masse von Formen nach dem
Vorbilde eines einzigen. Brugmann, Morphol. Unters. III, 49,
nimmt an, die italienischen Perfecten auf -etti, z. B. vendetti,
fremetti, seien sämmtlich Nachbildungen von ital. stetti = lat.
steti. Allein das beruht auf einem Irrthum. In Wirklichkeit
gibt es, was ich Schuchardt (Vocalismus des Vulgärlateins
I, 35) entnehme, im Italienischen 29 Perfecta auf -etti, welche
jedoch nicht alle unmittelbar von stetti ausgehen. Die auf -detti,
13 an der Zahl, wie vendetti = vendidi, credetti = credidi,
stammen vielmehr vom lat. -didi. Höchstens der harte Explosiv-
laut könnte seine Quelle in dem ganz vereinzelten stetti haben
(vgl. Osthoff M. U. IV, 3). Von da verbreitete sich allerdings
die Bildung weiter. Aber schon im Spätlateinischen finden
sich Missbildungen wie das jenem credidi, vendidi nachgebil-
dete pandidi. Diese Formen sind offenbar die Vorläufer der
weiter wuchernden italienischen Perfecta auf -detti. Um küh-
nere Annahmen dieser Art glaubhaft zu machen, hat Brugmann
Morphol. Unters. I, 82 unter Zustimmung Delbrück's Einleitung
S. 107 auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass durch
allmähliche Fortsetzung der Analogiebildung aus einigen we-
nigen, ja sogar aus einer einzigen Form nach und nach eine
grosse Menge sich hätte bilden können. Aber hier gilt das
Wort Misteli's, „möglich ist vieles“. Es fragt sich aber, was
wahrscheinlich ist, und das wird man von solchen Annahmen
gewiss nicht sagen, auch wenn wirklich, wie an den ange-
führten Stellen behauptet wird, in einzelnen neueren slawi-
schen Sprachen die Endung -mĭ, -m der 1. Sing, sich von vier
älteren Formen der Art auf alle Conjugationsclassen verbreitet
haben sollte. Es scheint mir überdies sehr gewagt, aus Vor-
gängen eines einzelnen Sprachkreises Schlüsse auf ein andres
Gebiet zu ziehn, wie das, welches uns hier zunächst beschäf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0065" n="57"/>
hätte, um jenem schwierigen <hi rendition="#i">&#x03BA;</hi> einen indogermanischen Ahn-<lb/>
herrn zu verschaffen. Behauptet freilich hat man, es gäbe<lb/>
auch auf deutlicher erforschbaren Gebieten sichere Fälle so<lb/>
eigenthümlicher Zeugung einer Masse von Formen nach dem<lb/>
Vorbilde eines einzigen. Brugmann, Morphol. Unters. III, 49,<lb/>
nimmt an, die italienischen Perfecten auf -<hi rendition="#i">etti</hi>, z. B. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">vendetti</foreign></hi>,<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">fremetti</foreign></hi>, seien sämmtlich Nachbildungen von ital. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">stetti</foreign></hi> = lat.<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">steti</foreign></hi>. Allein das beruht auf einem Irrthum. In Wirklichkeit<lb/>
gibt es, was ich Schuchardt (Vocalismus des Vulgärlateins<lb/>
I, 35) entnehme, im Italienischen 29 Perfecta auf -<hi rendition="#i">etti</hi>, welche<lb/>
jedoch nicht alle unmittelbar von <hi rendition="#i">stetti</hi> ausgehen. Die auf <hi rendition="#i">-detti</hi>,<lb/>
13 an der Zahl, wie <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">vendetti</foreign></hi> = <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">vendidi</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">credetti</foreign></hi> = <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">credidi</foreign></hi>,<lb/>
stammen vielmehr vom lat. <hi rendition="#i">-didi</hi>. Höchstens der harte Explosiv-<lb/>
laut könnte seine Quelle in dem ganz vereinzelten <hi rendition="#i">stetti</hi> haben<lb/>
(vgl. Osthoff M. U. IV, 3). Von da verbreitete sich allerdings<lb/>
die Bildung weiter. Aber schon im Spätlateinischen finden<lb/>
sich Missbildungen wie das jenem <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">credidi</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">vendidi</foreign></hi> nachgebil-<lb/>
dete <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ita">pandidi</foreign></hi>. Diese Formen sind offenbar die Vorläufer der<lb/>
weiter wuchernden italienischen Perfecta auf <hi rendition="#i">-detti</hi>. Um küh-<lb/>
nere Annahmen dieser Art glaubhaft zu machen, hat Brugmann<lb/>
Morphol. Unters. I, 82 unter Zustimmung Delbrück's Einleitung<lb/>
S. 107 auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass durch<lb/>
allmähliche Fortsetzung der Analogiebildung aus einigen we-<lb/>
nigen, ja sogar aus einer einzigen Form nach und nach eine<lb/>
grosse Menge sich hätte bilden können. Aber hier gilt das<lb/>
Wort Misteli's, &#x201E;möglich ist vieles&#x201C;. Es fragt sich aber, was<lb/>
wahrscheinlich ist, und das wird man von solchen Annahmen<lb/>
gewiss nicht sagen, auch wenn wirklich, wie an den ange-<lb/>
führten Stellen behauptet wird, in einzelnen neueren slawi-<lb/>
schen Sprachen die Endung -<hi rendition="#i">mi&#x0306;</hi>, <hi rendition="#i">-m</hi> der 1. Sing, sich von vier<lb/>
älteren Formen der Art auf alle Conjugationsclassen verbreitet<lb/>
haben sollte. Es scheint mir überdies sehr gewagt, aus Vor-<lb/>
gängen eines einzelnen Sprachkreises Schlüsse auf ein andres<lb/>
Gebiet zu ziehn, wie das, welches uns hier zunächst beschäf-<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0065] hätte, um jenem schwierigen κ einen indogermanischen Ahn- herrn zu verschaffen. Behauptet freilich hat man, es gäbe auch auf deutlicher erforschbaren Gebieten sichere Fälle so eigenthümlicher Zeugung einer Masse von Formen nach dem Vorbilde eines einzigen. Brugmann, Morphol. Unters. III, 49, nimmt an, die italienischen Perfecten auf -etti, z. B. vendetti, fremetti, seien sämmtlich Nachbildungen von ital. stetti = lat. steti. Allein das beruht auf einem Irrthum. In Wirklichkeit gibt es, was ich Schuchardt (Vocalismus des Vulgärlateins I, 35) entnehme, im Italienischen 29 Perfecta auf -etti, welche jedoch nicht alle unmittelbar von stetti ausgehen. Die auf -detti, 13 an der Zahl, wie vendetti = vendidi, credetti = credidi, stammen vielmehr vom lat. -didi. Höchstens der harte Explosiv- laut könnte seine Quelle in dem ganz vereinzelten stetti haben (vgl. Osthoff M. U. IV, 3). Von da verbreitete sich allerdings die Bildung weiter. Aber schon im Spätlateinischen finden sich Missbildungen wie das jenem credidi, vendidi nachgebil- dete pandidi. Diese Formen sind offenbar die Vorläufer der weiter wuchernden italienischen Perfecta auf -detti. Um küh- nere Annahmen dieser Art glaubhaft zu machen, hat Brugmann Morphol. Unters. I, 82 unter Zustimmung Delbrück's Einleitung S. 107 auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass durch allmähliche Fortsetzung der Analogiebildung aus einigen we- nigen, ja sogar aus einer einzigen Form nach und nach eine grosse Menge sich hätte bilden können. Aber hier gilt das Wort Misteli's, „möglich ist vieles“. Es fragt sich aber, was wahrscheinlich ist, und das wird man von solchen Annahmen gewiss nicht sagen, auch wenn wirklich, wie an den ange- führten Stellen behauptet wird, in einzelnen neueren slawi- schen Sprachen die Endung -mĭ, -m der 1. Sing, sich von vier älteren Formen der Art auf alle Conjugationsclassen verbreitet haben sollte. Es scheint mir überdies sehr gewagt, aus Vor- gängen eines einzelnen Sprachkreises Schlüsse auf ein andres Gebiet zu ziehn, wie das, welches uns hier zunächst beschäf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/65
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/65>, abgerufen am 24.11.2024.