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Dahlmann, Friedrich Christoph: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig, 1845.

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die beste Theorie stellt er bei Seite, wo sie auf die gege-
benen Verhältnisse keine Anwendung findet und doch etwas
gethan werden muß. Der französische Adel nahm von jeher
eine schiefe Stellung gegen die Verfassung, und der vierte
August hatte über die ganze vaterländische Aristokratie den
Stab gebrochen. Welcher Zukunft sahen die Prälaten ent-
gegen? Der Zehente dahin, und schon war den Gütern
der Geistlichkeit als der besten Stütze in der Finanznoth
nachgefragt. In jenen 200 Senatoren, wer sie auch vor-
schlagen mochte, erblickte man unwillig die Pflanzschule
einer neuen Aristokratie, lediglich Werkzeuge der Minister.
Was allenfalls noch haltbar scheinen möchte, sprach Mi-
rabeau in einer späteren Sitzung kurz so aus: "Ich willSept. 9.
zwei Kammern, wenn sie nur zwei Sectionen einer ein-
zigen seyn sollen, und ich will nur eine einzige, wenn die
eine ein Veto gegen die andere haben soll." Er sah die
Gemüther bereits entschieden, warf dieses Mittelding
noch so hin. In derselben Sitzung beschlossen 849 Stim-
men gegen 89 die Untheilbarkeit der Nationalversamm-
lung. Über die Permanenz war schon früher im Sinne
des Ausschusses entschieden. Die Vetofrage blieb übrig.

Sieyes schnitt alle diese Fragen, welche Mirabeau
mit Blick und Sinn für das vielfach verschlungene Leben
organisch behandelt hatte, mit einem Scheermesser hand-
werksmäßig durch, ließ kein Veto irgend einer Art zu.
Keine Ahnung in ihm von jener Vermittelung, welche
selbst der Mathematiker anerkennt, sobald er mit seiner

die beſte Theorie ſtellt er bei Seite, wo ſie auf die gege-
benen Verhältniſſe keine Anwendung findet und doch etwas
gethan werden muß. Der franzöſiſche Adel nahm von jeher
eine ſchiefe Stellung gegen die Verfaſſung, und der vierte
Auguſt hatte über die ganze vaterländiſche Ariſtokratie den
Stab gebrochen. Welcher Zukunft ſahen die Prälaten ent-
gegen? Der Zehente dahin, und ſchon war den Gütern
der Geiſtlichkeit als der beſten Stütze in der Finanznoth
nachgefragt. In jenen 200 Senatoren, wer ſie auch vor-
ſchlagen mochte, erblickte man unwillig die Pflanzſchule
einer neuen Ariſtokratie, lediglich Werkzeuge der Miniſter.
Was allenfalls noch haltbar ſcheinen möchte, ſprach Mi-
rabeau in einer ſpäteren Sitzung kurz ſo aus: „Ich willSept. 9.
zwei Kammern, wenn ſie nur zwei Sectionen einer ein-
zigen ſeyn ſollen, und ich will nur eine einzige, wenn die
eine ein Veto gegen die andere haben ſoll.“ Er ſah die
Gemüther bereits entſchieden, warf dieſes Mittelding
noch ſo hin. In derſelben Sitzung beſchloſſen 849 Stim-
men gegen 89 die Untheilbarkeit der Nationalverſamm-
lung. Über die Permanenz war ſchon früher im Sinne
des Ausſchuſſes entſchieden. Die Vetofrage blieb übrig.

Sieyes ſchnitt alle dieſe Fragen, welche Mirabeau
mit Blick und Sinn für das vielfach verſchlungene Leben
organiſch behandelt hatte, mit einem Scheermeſſer hand-
werksmäßig durch, ließ kein Veto irgend einer Art zu.
Keine Ahnung in ihm von jener Vermittelung, welche
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[263/0273] die beſte Theorie ſtellt er bei Seite, wo ſie auf die gege- benen Verhältniſſe keine Anwendung findet und doch etwas gethan werden muß. Der franzöſiſche Adel nahm von jeher eine ſchiefe Stellung gegen die Verfaſſung, und der vierte Auguſt hatte über die ganze vaterländiſche Ariſtokratie den Stab gebrochen. Welcher Zukunft ſahen die Prälaten ent- gegen? Der Zehente dahin, und ſchon war den Gütern der Geiſtlichkeit als der beſten Stütze in der Finanznoth nachgefragt. In jenen 200 Senatoren, wer ſie auch vor- ſchlagen mochte, erblickte man unwillig die Pflanzſchule einer neuen Ariſtokratie, lediglich Werkzeuge der Miniſter. Was allenfalls noch haltbar ſcheinen möchte, ſprach Mi- rabeau in einer ſpäteren Sitzung kurz ſo aus: „Ich will zwei Kammern, wenn ſie nur zwei Sectionen einer ein- zigen ſeyn ſollen, und ich will nur eine einzige, wenn die eine ein Veto gegen die andere haben ſoll.“ Er ſah die Gemüther bereits entſchieden, warf dieſes Mittelding noch ſo hin. In derſelben Sitzung beſchloſſen 849 Stim- men gegen 89 die Untheilbarkeit der Nationalverſamm- lung. Über die Permanenz war ſchon früher im Sinne des Ausſchuſſes entſchieden. Die Vetofrage blieb übrig. Sept. 9. Sieyes ſchnitt alle dieſe Fragen, welche Mirabeau mit Blick und Sinn für das vielfach verſchlungene Leben organiſch behandelt hatte, mit einem Scheermeſſer hand- werksmäßig durch, ließ kein Veto irgend einer Art zu. Keine Ahnung in ihm von jener Vermittelung, welche ſelbſt der Mathematiker anerkennt, ſobald er mit ſeiner

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig, 1845, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_geschichte_1845/273>, abgerufen am 25.11.2024.