Plato leitet den historischen Staat aus der Bedürftig- keit der Menschen ab, die einander nicht zu entbehren ver- mögen (II. p. 369.); die fast völlige Unausführbarkeit sei- nes urbildlichen Staates giebt er selber mehrmahls zu. Stände er aber durch ein Wunder plötzlich da, so gewährt er in seiner völligen Fertigkeit nur ein Bild zum An- schaun, nichts für das Weiter-Streben, nichts für die Ver- vollkommnung. Der beste Staat kann nicht besser wer- den, er kann nur vor Verschlimmerung bewahrt werden.
215. Nichts desto weniger enthält Platons Staat die große ethische Darstellung der Wahrheit, daß die Ge- rechtigkeit auch in ihrer räumlichsten Erscheinung (im Staate) nicht darin allein bestehe, daß überhaupt ein Recht angenommen sey, sondern daß das rechte Recht es sey, daß eine gewisse Beschaffenheit des Rechts nicht fehlen dürfe, und zwar eine solche, wodurch nicht ein einzelnes Glied des Staats befriedigt wird, sondern jeder Theil des Volks an die ihm gebührende Stelle kommt. Die Moral für sich betrachtet, verlangt Gesinnung, das Staatsgebot für sich betrachtet, verlangt Leistung, es darf nicht unterlassen wer- den, aber der gute Staat schreibt solche Leistungen vor, welche dem Gesetze der höheren Gerechtigkeit entsprechen und darum eine Gewährleistung ihrer dauernden Erfüllung in sich tragen.
216. Im hohen Alter schrieb Platon die zwölf Bücher der Gesetze, die er gleichsam für die Leute vom Schlage der dritten Classe bestimmte, deren Erziehung und Gesetze er für seine zehn Bücher vom Staate zu gering achtete. Hier schließt er sich, obwohl an alten Neigungen haftend, mehr den Zuständen und der Geschichte an, verschmäht
Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig- keit der Menſchen ab, die einander nicht zu entbehren ver- moͤgen (II. p. 369.); die faſt voͤllige Unausfuͤhrbarkeit ſei- nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu. Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An- ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver- vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer- den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden.
215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge- rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe, und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer- den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor, welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung in ſich tragen.
216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete. Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend, mehr den Zuſtaͤnden und der Geſchichte an, verſchmaͤht
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Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig-
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nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu.
Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt
er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An-
ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver-
vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer-
den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden.
215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die
große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge-
rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im
Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht
angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß
eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe,
und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied
des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks
an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer-
den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor,
welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen
und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung
in ſich tragen.
216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher
der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage
der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze
er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete.
Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend,
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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/201>, abgerufen am 20.07.2024.
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