Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Blick auf d. Systematik d. Staatswissensch.

Plato leitet den historischen Staat aus der Bedürftig-
keit der Menschen ab, die einander nicht zu entbehren ver-
mögen (II. p. 369.); die fast völlige Unausführbarkeit sei-
nes urbildlichen Staates giebt er selber mehrmahls zu.
Stände er aber durch ein Wunder plötzlich da, so gewährt
er in seiner völligen Fertigkeit nur ein Bild zum An-
schaun, nichts für das Weiter-Streben, nichts für die Ver-
vollkommnung. Der beste Staat kann nicht besser wer-
den, er kann nur vor Verschlimmerung bewahrt werden.

215. Nichts desto weniger enthält Platons Staat die
große ethische Darstellung der Wahrheit, daß die Ge-
rechtigkeit auch in ihrer räumlichsten Erscheinung (im
Staate) nicht darin allein bestehe, daß überhaupt ein Recht
angenommen sey, sondern daß das rechte Recht es sey, daß
eine gewisse Beschaffenheit des Rechts nicht fehlen dürfe,
und zwar eine solche, wodurch nicht ein einzelnes Glied
des Staats befriedigt wird, sondern jeder Theil des Volks
an die ihm gebührende Stelle kommt. Die Moral für sich
betrachtet, verlangt Gesinnung, das Staatsgebot für sich
betrachtet, verlangt Leistung, es darf nicht unterlassen wer-
den, aber der gute Staat schreibt solche Leistungen vor,
welche dem Gesetze der höheren Gerechtigkeit entsprechen
und darum eine Gewährleistung ihrer dauernden Erfüllung
in sich tragen.

216. Im hohen Alter schrieb Platon die zwölf Bücher
der Gesetze, die er gleichsam für die Leute vom Schlage
der dritten Classe bestimmte, deren Erziehung und Gesetze
er für seine zehn Bücher vom Staate zu gering achtete.
Hier schließt er sich, obwohl an alten Neigungen haftend,
mehr den Zuständen und der Geschichte an, verschmäht

Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.

Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig-
keit der Menſchen ab, die einander nicht zu entbehren ver-
moͤgen (II. p. 369.); die faſt voͤllige Unausfuͤhrbarkeit ſei-
nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu.
Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt
er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An-
ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver-
vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer-
den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden.

215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die
große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge-
rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im
Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht
angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß
eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe,
und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied
des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks
an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich
betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer-
den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor,
welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen
und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung
in ſich tragen.

216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher
der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage
der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze
er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete.
Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend,
mehr den Zuſtaͤnden und der Geſchichte an, verſchmaͤht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0201" n="189"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Blick auf d. Sy&#x017F;tematik d. Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;ch</hi>.</fw><lb/>
            <p>Plato leitet den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Staat aus der Bedu&#x0364;rftig-<lb/>
keit der Men&#x017F;chen ab, die einander nicht zu entbehren ver-<lb/>
mo&#x0364;gen (<hi rendition="#aq">II. p.</hi> 369.); die fa&#x017F;t vo&#x0364;llige Unausfu&#x0364;hrbarkeit &#x017F;ei-<lb/>
nes urbildlichen Staates giebt er &#x017F;elber mehrmahls zu.<lb/>
Sta&#x0364;nde er aber durch ein Wunder plo&#x0364;tzlich da, &#x017F;o gewa&#x0364;hrt<lb/>
er in &#x017F;einer vo&#x0364;lligen <hi rendition="#g">Fertigkeit</hi> nur ein Bild zum An-<lb/>
&#x017F;chaun, nichts fu&#x0364;r das Weiter-Streben, nichts fu&#x0364;r die Ver-<lb/>
vollkommnung. Der be&#x017F;te Staat kann nicht be&#x017F;&#x017F;er wer-<lb/>
den, er kann nur vor Ver&#x017F;chlimmerung bewahrt werden.</p><lb/>
            <p>215. Nichts de&#x017F;to weniger entha&#x0364;lt Platons Staat die<lb/>
große ethi&#x017F;che Dar&#x017F;tellung der Wahrheit, daß die Ge-<lb/>
rechtigkeit auch in ihrer ra&#x0364;umlich&#x017F;ten Er&#x017F;cheinung (im<lb/>
Staate) nicht darin allein be&#x017F;tehe, daß u&#x0364;berhaupt ein Recht<lb/>
angenommen &#x017F;ey, &#x017F;ondern daß das rechte Recht es &#x017F;ey, daß<lb/>
eine gewi&#x017F;&#x017F;e Be&#x017F;chaffenheit des Rechts nicht fehlen du&#x0364;rfe,<lb/>
und zwar eine &#x017F;olche, wodurch nicht ein einzelnes Glied<lb/>
des Staats befriedigt wird, &#x017F;ondern jeder Theil des Volks<lb/>
an die ihm gebu&#x0364;hrende Stelle kommt. Die Moral fu&#x0364;r &#x017F;ich<lb/>
betrachtet, verlangt Ge&#x017F;innung, das Staatsgebot fu&#x0364;r &#x017F;ich<lb/>
betrachtet, verlangt Lei&#x017F;tung, es darf nicht unterla&#x017F;&#x017F;en wer-<lb/>
den, aber der gute Staat &#x017F;chreibt &#x017F;olche Lei&#x017F;tungen vor,<lb/>
welche dem Ge&#x017F;etze der ho&#x0364;heren Gerechtigkeit ent&#x017F;prechen<lb/>
und darum eine Gewa&#x0364;hrlei&#x017F;tung ihrer dauernden Erfu&#x0364;llung<lb/>
in &#x017F;ich tragen.</p><lb/>
            <p>216. Im hohen Alter &#x017F;chrieb Platon die zwo&#x0364;lf Bu&#x0364;cher<lb/>
der <hi rendition="#g">Ge&#x017F;etze</hi>, die er gleich&#x017F;am fu&#x0364;r die Leute vom Schlage<lb/>
der dritten Cla&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;timmte, deren Erziehung und Ge&#x017F;etze<lb/>
er fu&#x0364;r &#x017F;eine zehn Bu&#x0364;cher vom Staate zu gering achtete.<lb/>
Hier &#x017F;chließt er &#x017F;ich, obwohl an alten Neigungen haftend,<lb/>
mehr den Zu&#x017F;ta&#x0364;nden und der Ge&#x017F;chichte an, ver&#x017F;chma&#x0364;ht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0201] Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch. Plato leitet den hiſtoriſchen Staat aus der Beduͤrftig- keit der Menſchen ab, die einander nicht zu entbehren ver- moͤgen (II. p. 369.); die faſt voͤllige Unausfuͤhrbarkeit ſei- nes urbildlichen Staates giebt er ſelber mehrmahls zu. Staͤnde er aber durch ein Wunder ploͤtzlich da, ſo gewaͤhrt er in ſeiner voͤlligen Fertigkeit nur ein Bild zum An- ſchaun, nichts fuͤr das Weiter-Streben, nichts fuͤr die Ver- vollkommnung. Der beſte Staat kann nicht beſſer wer- den, er kann nur vor Verſchlimmerung bewahrt werden. 215. Nichts deſto weniger enthaͤlt Platons Staat die große ethiſche Darſtellung der Wahrheit, daß die Ge- rechtigkeit auch in ihrer raͤumlichſten Erſcheinung (im Staate) nicht darin allein beſtehe, daß uͤberhaupt ein Recht angenommen ſey, ſondern daß das rechte Recht es ſey, daß eine gewiſſe Beſchaffenheit des Rechts nicht fehlen duͤrfe, und zwar eine ſolche, wodurch nicht ein einzelnes Glied des Staats befriedigt wird, ſondern jeder Theil des Volks an die ihm gebuͤhrende Stelle kommt. Die Moral fuͤr ſich betrachtet, verlangt Geſinnung, das Staatsgebot fuͤr ſich betrachtet, verlangt Leiſtung, es darf nicht unterlaſſen wer- den, aber der gute Staat ſchreibt ſolche Leiſtungen vor, welche dem Geſetze der hoͤheren Gerechtigkeit entſprechen und darum eine Gewaͤhrleiſtung ihrer dauernden Erfuͤllung in ſich tragen. 216. Im hohen Alter ſchrieb Platon die zwoͤlf Buͤcher der Geſetze, die er gleichſam fuͤr die Leute vom Schlage der dritten Claſſe beſtimmte, deren Erziehung und Geſetze er fuͤr ſeine zehn Buͤcher vom Staate zu gering achtete. Hier ſchließt er ſich, obwohl an alten Neigungen haftend, mehr den Zuſtaͤnden und der Geſchichte an, verſchmaͤht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/201
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/201>, abgerufen am 21.11.2024.