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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Religion und Kirche im Staate.
Wege den Conflict der vom Pabstthum losgerissenen, ihren
Herrn suchenden Kirche mit dem Staate gefährlich ver-
stärkt und den Ausgang, wie er nun wurde, dennoch
schwerlich vermieden haben. Denn der Staat schmachtete
nach Einheit. Das Territorial-System des Christian Tho-
masius und das Collegial-System des Tübingischen Kanz-
lers Christoph Matthäus Pfaff gehen beide von gleich noth-
wendigen Gesichtspunkten aus, die sie nur einseitig gel-
tend machen und manchmahl bis zum Äußersten verfolgen.
Der Eine eilt dem Staate zu Hülfe, aber er verwechselt
gern die Rechte des Staats mit denen des Fürsten, der
Andere trägt die Fiction des ursprünglichen Vertrages auf
die Kirche über, doch treibt in ihm der Grundgedanke des
religiösen Lebens nach Verwirklichung. Es fragt sich hier
wesentlich zweierlei: Was der (evangelische) Staat über-
haupt in kirchlichen Dingen vermöge? und: Auf welchem
Wege er am besten ausrichte was ihm zusteht, was ihm
nicht ziemt vermeide? Die Antwort auf die erste Frage
ist: er hat die einmahl aufgenommenen Kirchen nach ihrem
Lehrbegriffe und ihrer Gesellschaftsverfassung zu behandeln.
Er ist daher dermahlen außer Stand die katholische Kirche,
besonders insofern sie papistisch ist, in ein ganz richtiges
Verhältniß zu seiner Ordnung zu setzen; nichts desto we-
niger regelt er dasselbe durch Vergleiche mit der Päbstli-
chen Curie, so viel ohne Verletzung der Gewissen geschehen
kann, möglichst zu seinem Vortheile, denn er ist in seinem
Rechte. Die evangelische Kirche erkennt alle Herrschafts-
Rechte des Staates an, wie sie aus dem Schutze
und der Oberaufsicht hervorgehen, allein von dieser Kir-
chenhoheit, welche aus dem Begriffe des Staates fließt,
trennt sie die Kirchengewalt, welche die Verwaltung der
Kirchengesellschaft angeht, die aber freilich auch an ein

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Religion und Kirche im Staate.
Wege den Conflict der vom Pabſtthum losgeriſſenen, ihren
Herrn ſuchenden Kirche mit dem Staate gefaͤhrlich ver-
ſtaͤrkt und den Ausgang, wie er nun wurde, dennoch
ſchwerlich vermieden haben. Denn der Staat ſchmachtete
nach Einheit. Das Territorial-Syſtem des Chriſtian Tho-
maſius und das Collegial-Syſtem des Tuͤbingiſchen Kanz-
lers Chriſtoph Matthaͤus Pfaff gehen beide von gleich noth-
wendigen Geſichtspunkten aus, die ſie nur einſeitig gel-
tend machen und manchmahl bis zum Äußerſten verfolgen.
Der Eine eilt dem Staate zu Huͤlfe, aber er verwechſelt
gern die Rechte des Staats mit denen des Fuͤrſten, der
Andere traͤgt die Fiction des urſpruͤnglichen Vertrages auf
die Kirche uͤber, doch treibt in ihm der Grundgedanke des
religioͤſen Lebens nach Verwirklichung. Es fragt ſich hier
weſentlich zweierlei: Was der (evangeliſche) Staat uͤber-
haupt in kirchlichen Dingen vermoͤge? und: Auf welchem
Wege er am beſten ausrichte was ihm zuſteht, was ihm
nicht ziemt vermeide? Die Antwort auf die erſte Frage
iſt: er hat die einmahl aufgenommenen Kirchen nach ihrem
Lehrbegriffe und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung zu behandeln.
Er iſt daher dermahlen außer Stand die katholiſche Kirche,
beſonders inſofern ſie papiſtiſch iſt, in ein ganz richtiges
Verhaͤltniß zu ſeiner Ordnung zu ſetzen; nichts deſto we-
niger regelt er dasſelbe durch Vergleiche mit der Paͤbſtli-
chen Curie, ſo viel ohne Verletzung der Gewiſſen geſchehen
kann, moͤglichſt zu ſeinem Vortheile, denn er iſt in ſeinem
Rechte. Die evangeliſche Kirche erkennt alle Herrſchafts-
Rechte des Staates an, wie ſie aus dem Schutze
und der Oberaufſicht hervorgehen, allein von dieſer Kir-
chenhoheit, welche aus dem Begriffe des Staates fließt,
trennt ſie die Kirchengewalt, welche die Verwaltung der
Kirchengeſellſchaft angeht, die aber freilich auch an ein

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[321/0333] Religion und Kirche im Staate. Wege den Conflict der vom Pabſtthum losgeriſſenen, ihren Herrn ſuchenden Kirche mit dem Staate gefaͤhrlich ver- ſtaͤrkt und den Ausgang, wie er nun wurde, dennoch ſchwerlich vermieden haben. Denn der Staat ſchmachtete nach Einheit. Das Territorial-Syſtem des Chriſtian Tho- maſius und das Collegial-Syſtem des Tuͤbingiſchen Kanz- lers Chriſtoph Matthaͤus Pfaff gehen beide von gleich noth- wendigen Geſichtspunkten aus, die ſie nur einſeitig gel- tend machen und manchmahl bis zum Äußerſten verfolgen. Der Eine eilt dem Staate zu Huͤlfe, aber er verwechſelt gern die Rechte des Staats mit denen des Fuͤrſten, der Andere traͤgt die Fiction des urſpruͤnglichen Vertrages auf die Kirche uͤber, doch treibt in ihm der Grundgedanke des religioͤſen Lebens nach Verwirklichung. Es fragt ſich hier weſentlich zweierlei: Was der (evangeliſche) Staat uͤber- haupt in kirchlichen Dingen vermoͤge? und: Auf welchem Wege er am beſten ausrichte was ihm zuſteht, was ihm nicht ziemt vermeide? Die Antwort auf die erſte Frage iſt: er hat die einmahl aufgenommenen Kirchen nach ihrem Lehrbegriffe und ihrer Geſellſchaftsverfaſſung zu behandeln. Er iſt daher dermahlen außer Stand die katholiſche Kirche, beſonders inſofern ſie papiſtiſch iſt, in ein ganz richtiges Verhaͤltniß zu ſeiner Ordnung zu ſetzen; nichts deſto we- niger regelt er dasſelbe durch Vergleiche mit der Paͤbſtli- chen Curie, ſo viel ohne Verletzung der Gewiſſen geſchehen kann, moͤglichſt zu ſeinem Vortheile, denn er iſt in ſeinem Rechte. Die evangeliſche Kirche erkennt alle Herrſchafts- Rechte des Staates an, wie ſie aus dem Schutze und der Oberaufſicht hervorgehen, allein von dieſer Kir- chenhoheit, welche aus dem Begriffe des Staates fließt, trennt ſie die Kirchengewalt, welche die Verwaltung der Kirchengeſellſchaft angeht, die aber freilich auch an ein 21

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/333>, abgerufen am 24.11.2024.