Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Capitel.
deiner Hitze etwas hinweg", oder was der Megarenser
vom Lysander hören mußte: "Deinen Reden fehlt weiter
nichts als der Staat." Bei allem dem macht gerade die
Kleinheit einen Theil vom Wesen der wichtigsten Staaten
des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht.
Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben,
so ausgedehnt sie auch durch Eroberung wurden, von klei-
nem Zuschnitt, Hauptstadt-Staaten. Dagegen nahmen
die Germanischen Landvölker, sobald sie ihre Natur-Ver-
fassung verließen und erobernd sich des Staates bewußt
wurden, einen großen und massenhaften Staats-Charakter
an. Die festen Hauptstädte waren bei den Germanen,
wo sie sich selbst mehr überlassen blieben, eine spätere
Erfindung.

69. Das Christenthum stellte den Staat nothwendiger
Weise tiefer, als er bei Griechen und Römern stand. Es
will die erste Angelegenheit des Menschen seyn, welchen
Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt höchstens
die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Aristotelischen
Sinne Architektonik seyn. Das Christenthum will die
Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und läßt es
mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur
Nachfolge finde. Inzwischen ist es unmöglich, daß dasselbe
nicht, weiter durchgebildet, auch gewisse Staatsformen vor-
ziehe als dem christlichen Leben zusagend, andere verwerfe
als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den
Pflichten nachsteht, und es nur in soweit dem Rechte
nachfragt, als solches für die christliche Freiheit nothwen-
dig ist. Das Christenthum stellt allerdings Menschenrechte
auf, welche zu politischen Rechten der Gattung führen,
allein von natürlichen politischen Rechten aller Indivi-

Drittes Capitel.
deiner Hitze etwas hinweg“, oder was der Megarenſer
vom Lyſander hoͤren mußte: „Deinen Reden fehlt weiter
nichts als der Staat.“ Bei allem dem macht gerade die
Kleinheit einen Theil vom Weſen der wichtigſten Staaten
des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht.
Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben,
ſo ausgedehnt ſie auch durch Eroberung wurden, von klei-
nem Zuſchnitt, Hauptſtadt-Staaten. Dagegen nahmen
die Germaniſchen Landvoͤlker, ſobald ſie ihre Natur-Ver-
faſſung verließen und erobernd ſich des Staates bewußt
wurden, einen großen und maſſenhaften Staats-Charakter
an. Die feſten Hauptſtaͤdte waren bei den Germanen,
wo ſie ſich ſelbſt mehr uͤberlaſſen blieben, eine ſpaͤtere
Erfindung.

69. Das Chriſtenthum ſtellte den Staat nothwendiger
Weiſe tiefer, als er bei Griechen und Roͤmern ſtand. Es
will die erſte Angelegenheit des Menſchen ſeyn, welchen
Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt hoͤchſtens
die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Ariſtoteliſchen
Sinne Architektonik ſeyn. Das Chriſtenthum will die
Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und laͤßt es
mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur
Nachfolge finde. Inzwiſchen iſt es unmoͤglich, daß daſſelbe
nicht, weiter durchgebildet, auch gewiſſe Staatsformen vor-
ziehe als dem chriſtlichen Leben zuſagend, andere verwerfe
als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den
Pflichten nachſteht, und es nur in ſoweit dem Rechte
nachfragt, als ſolches fuͤr die chriſtliche Freiheit nothwen-
dig iſt. Das Chriſtenthum ſtellt allerdings Menſchenrechte
auf, welche zu politiſchen Rechten der Gattung fuͤhren,
allein von natuͤrlichen politiſchen Rechten aller Indivi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0064" n="52"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/>
deiner Hitze etwas hinweg&#x201C;, oder was der Megaren&#x017F;er<lb/>
vom Ly&#x017F;ander ho&#x0364;ren mußte: &#x201E;Deinen Reden fehlt weiter<lb/>
nichts als der Staat.&#x201C; Bei allem dem macht gerade die<lb/>
Kleinheit einen Theil vom We&#x017F;en der wichtig&#x017F;ten Staaten<lb/>
des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht.<lb/>
Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben,<lb/>
&#x017F;o ausgedehnt &#x017F;ie auch durch Eroberung wurden, von klei-<lb/>
nem Zu&#x017F;chnitt, Haupt&#x017F;tadt-Staaten. Dagegen nahmen<lb/>
die Germani&#x017F;chen Landvo&#x0364;lker, &#x017F;obald &#x017F;ie ihre Natur-Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung verließen und erobernd &#x017F;ich des Staates bewußt<lb/>
wurden, einen großen und ma&#x017F;&#x017F;enhaften Staats-Charakter<lb/>
an. Die fe&#x017F;ten Haupt&#x017F;ta&#x0364;dte waren bei den Germanen,<lb/>
wo &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t mehr u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en blieben, eine &#x017F;pa&#x0364;tere<lb/>
Erfindung.</p><lb/>
            <p>69. Das Chri&#x017F;tenthum &#x017F;tellte den Staat nothwendiger<lb/>
Wei&#x017F;e tiefer, als er bei Griechen und Ro&#x0364;mern &#x017F;tand. Es<lb/>
will die er&#x017F;te Angelegenheit des Men&#x017F;chen &#x017F;eyn, welchen<lb/>
Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt ho&#x0364;ch&#x017F;tens<lb/>
die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Ari&#x017F;toteli&#x017F;chen<lb/>
Sinne Architektonik &#x017F;eyn. Das Chri&#x017F;tenthum will die<lb/>
Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und la&#x0364;ßt es<lb/>
mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur<lb/>
Nachfolge finde. Inzwi&#x017F;chen i&#x017F;t es unmo&#x0364;glich, daß da&#x017F;&#x017F;elbe<lb/>
nicht, weiter durchgebildet, auch gewi&#x017F;&#x017F;e Staatsformen vor-<lb/>
ziehe als dem chri&#x017F;tlichen Leben zu&#x017F;agend, andere verwerfe<lb/>
als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den<lb/>
Pflichten nach&#x017F;teht, und es nur in &#x017F;oweit dem Rechte<lb/>
nachfragt, als &#x017F;olches fu&#x0364;r die chri&#x017F;tliche Freiheit nothwen-<lb/>
dig i&#x017F;t. Das Chri&#x017F;tenthum &#x017F;tellt allerdings Men&#x017F;chenrechte<lb/>
auf, welche zu politi&#x017F;chen Rechten der Gattung fu&#x0364;hren,<lb/>
allein von <hi rendition="#g">natu&#x0364;rlichen</hi> politi&#x017F;chen Rechten aller Indivi-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0064] Drittes Capitel. deiner Hitze etwas hinweg“, oder was der Megarenſer vom Lyſander hoͤren mußte: „Deinen Reden fehlt weiter nichts als der Staat.“ Bei allem dem macht gerade die Kleinheit einen Theil vom Weſen der wichtigſten Staaten des Alterthums aus, wovon die Spur nie verloren geht. Sie fingen mit Stadt und Stadtgebiet an, und blieben, ſo ausgedehnt ſie auch durch Eroberung wurden, von klei- nem Zuſchnitt, Hauptſtadt-Staaten. Dagegen nahmen die Germaniſchen Landvoͤlker, ſobald ſie ihre Natur-Ver- faſſung verließen und erobernd ſich des Staates bewußt wurden, einen großen und maſſenhaften Staats-Charakter an. Die feſten Hauptſtaͤdte waren bei den Germanen, wo ſie ſich ſelbſt mehr uͤberlaſſen blieben, eine ſpaͤtere Erfindung. 69. Das Chriſtenthum ſtellte den Staat nothwendiger Weiſe tiefer, als er bei Griechen und Roͤmern ſtand. Es will die erſte Angelegenheit des Menſchen ſeyn, welchen Staat er auch bewohne. Dem Staate bleibt hoͤchſtens die zweite Stelle, er kann nicht mehr im Ariſtoteliſchen Sinne Architektonik ſeyn. Das Chriſtenthum will die Einzelnen umwandeln, die Familie reinigen, und laͤßt es mit dem Staate darauf ankommen, wie er den Weg zur Nachfolge finde. Inzwiſchen iſt es unmoͤglich, daß daſſelbe nicht, weiter durchgebildet, auch gewiſſe Staatsformen vor- ziehe als dem chriſtlichen Leben zuſagend, andere verwerfe als das Gegentheil; nur daß alles Recht bei ihm den Pflichten nachſteht, und es nur in ſoweit dem Rechte nachfragt, als ſolches fuͤr die chriſtliche Freiheit nothwen- dig iſt. Das Chriſtenthum ſtellt allerdings Menſchenrechte auf, welche zu politiſchen Rechten der Gattung fuͤhren, allein von natuͤrlichen politiſchen Rechten aller Indivi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/64
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/64>, abgerufen am 21.11.2024.