Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Erster Abschnitt. die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung derStoffe, in der Abfolge der Weltzustände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu- sammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Personen gelegen ist, wird nothwendig. Und so be- ginnt die Arbeit, diesen Zusammenhang gedankenmäßig, der Wirk- lichkeit entsprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge- bunden, Bewegung im Raum: dies Alles ist der Anschauung gegeben, und es soll nun in seinem Zusammenhang erkannt werden. Ein langer und mühsamer Weg erfahrenden und versuchen- Dies Alles stand bevor; aber wir verfolgen zunächst, wie, Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung derStoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu- ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be- ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk- lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge- bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden. Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen- Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0203" n="180"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.</fw><lb/> die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der<lb/> Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der<lb/> Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu-<lb/> ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der<lb/> Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be-<lb/> ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk-<lb/> lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und<lb/> Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge-<lb/> bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung<lb/> gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.</p><lb/> <p>Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen-<lb/> den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden<lb/> wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in<lb/> Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden,<lb/> als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt<lb/> undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte<lb/> gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß<lb/> der Natur.</p><lb/> <p>Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie,<lb/> durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, <hi rendition="#g">nun-<lb/> mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen<lb/> Erklärung des Kosmos hervortrat</hi>. Im ſechſten Jahr-<lb/> hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und<lb/> italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe-<lb/> matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das<lb/> Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen<lb/> beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo-<lb/> nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver-<lb/> faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch<lb/> die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in<lb/> ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um-<lb/> gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in<lb/> ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und<lb/> die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der<lb/> einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [180/0203]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der
Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der
Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu-
ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der
Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be-
ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk-
lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und
Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge-
bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung
gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen-
den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden
wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in
Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden,
als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt
undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte
gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß
der Natur.
Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie,
durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun-
mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen
Erklärung des Kosmos hervortrat. Im ſechſten Jahr-
hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und
italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe-
matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das
Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen
beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo-
nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver-
faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch
die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in
ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um-
gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in
ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und
die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der
einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt
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