die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der Stoffe, in der Abfolge der Weltzustände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu- sammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Personen gelegen ist, wird nothwendig. Und so be- ginnt die Arbeit, diesen Zusammenhang gedankenmäßig, der Wirk- lichkeit entsprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge- bunden, Bewegung im Raum: dies Alles ist der Anschauung gegeben, und es soll nun in seinem Zusammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühsamer Weg erfahrenden und versuchen- den Denkens beginnt, und, an seinem Ende angekommen, werden wir sagen: Dies Andere, welches Natur ist, kann so wenig in Gedankenelemente aufgelöst und durch sie gänzlich erkannt werden, als es im mythischen Vorstellen durchdrungen wurde. Es bleibt undurchdringbar, da es eine in der Totalität unserer Gemüthskräfte gegebene Thatsächlichkeit ist. Es giebt keine metaphysische Erkenntniß der Natur.
Dies Alles stand bevor; aber wir verfolgen zunächst, wie, durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun- mehr die große Thatsache einer wissenschaftlichen Erklärung des Kosmos hervortrat. Im sechsten Jahr- hundert ist diese Thatsache entstanden, indem in den jonischen und italischen Kolonien der Griechen zu dieser Zeit elementare mathe- matische und astronomische Einsichten und Verfahrungsweisen auf das Problem angewandt wurden, welches auch das mythische Vorstellen beschäftigt hatte: die Entstehung des Kosmos. Die jonischen Kolo- nialstädte waren in rapider Entwicklung zu demokratischen Ver- fassungen und zur Entfesselung aller Kräfte vorangeschritten. Durch die Organisation ihres Kultusrechtes war die geistige Bewegung in ihnen weniger von dem Priesterthum abhängig, als in den sie um- gebenden, alten orientalischen Kulturstaaten. Und nun gab der in ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und die Mittel der Forschung. Denn die selbständige Entwicklung der einzelnen Zweckzusammenhänge in der menschlichen Gesellschaft ist
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu- ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be- ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk- lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge- bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen- den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden, als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß der Natur.
Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie, durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun- mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen Erklärung des Kosmos hervortrat. Im ſechſten Jahr- hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe- matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo- nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver- faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um- gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0203"n="180"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.</fw><lb/>
die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der<lb/>
Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der<lb/>
Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu-<lb/>ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der<lb/>
Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be-<lb/>
ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk-<lb/>
lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und<lb/>
Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge-<lb/>
bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung<lb/>
gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.</p><lb/><p>Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen-<lb/>
den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden<lb/>
wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in<lb/>
Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden,<lb/>
als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt<lb/>
undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte<lb/>
gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß<lb/>
der Natur.</p><lb/><p>Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie,<lb/>
durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, <hirendition="#g">nun-<lb/>
mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen<lb/>
Erklärung des Kosmos hervortrat</hi>. Im ſechſten Jahr-<lb/>
hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und<lb/>
italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe-<lb/>
matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das<lb/>
Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen<lb/>
beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo-<lb/>
nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver-<lb/>
faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch<lb/>
die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in<lb/>
ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um-<lb/>
gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in<lb/>
ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und<lb/>
die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der<lb/>
einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[180/0203]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
die Erfahrung der Regelmäßigkeit in der Umwandlung der
Stoffe, in der Abfolge der Weltzuſtände, in dem Spiel der
Bewegungen verlangt eine andere Erklärung; ein anderer Zu-
ſammenhang der Natur, als welcher in den Beziehungen der
Willen von Perſonen gelegen iſt, wird nothwendig. Und ſo be-
ginnt die Arbeit, dieſen Zuſammenhang gedankenmäßig, der Wirk-
lichkeit entſprechend, zu entwerfen. Die Dinge, in Wirken und
Leiden mit einander verkettet, Veränderung an Veränderung ge-
bunden, Bewegung im Raum: dies Alles iſt der Anſchauung
gegeben, und es ſoll nun in ſeinem Zuſammenhang erkannt werden.
Ein langer und mühſamer Weg erfahrenden und verſuchen-
den Denkens beginnt, und, an ſeinem Ende angekommen, werden
wir ſagen: Dies Andere, welches Natur iſt, kann ſo wenig in
Gedankenelemente aufgelöſt und durch ſie gänzlich erkannt werden,
als es im mythiſchen Vorſtellen durchdrungen wurde. Es bleibt
undurchdringbar, da es eine in der Totalität unſerer Gemüthskräfte
gegebene Thatſächlichkeit iſt. Es giebt keine metaphyſiſche Erkenntniß
der Natur.
Dies Alles ſtand bevor; aber wir verfolgen zunächſt, wie,
durch die beiden bezeichneten Richtungen allmälig vorbereitet, nun-
mehr die große Thatſache einer wiſſenſchaftlichen
Erklärung des Kosmos hervortrat. Im ſechſten Jahr-
hundert iſt dieſe Thatſache entſtanden, indem in den joniſchen und
italiſchen Kolonien der Griechen zu dieſer Zeit elementare mathe-
matiſche und aſtronomiſche Einſichten und Verfahrungsweiſen auf das
Problem angewandt wurden, welches auch das mythiſche Vorſtellen
beſchäftigt hatte: die Entſtehung des Kosmos. Die joniſchen Kolo-
nialſtädte waren in rapider Entwicklung zu demokratiſchen Ver-
faſſungen und zur Entfeſſelung aller Kräfte vorangeſchritten. Durch
die Organiſation ihres Kultusrechtes war die geiſtige Bewegung in
ihnen weniger von dem Prieſterthum abhängig, als in den ſie um-
gebenden, alten orientaliſchen Kulturſtaaten. Und nun gab der in
ihnen aufgehäufte Reichthum unabhängigen Männern die Muße und
die Mittel der Forſchung. Denn die ſelbſtändige Entwicklung der
einzelnen Zweckzuſammenhänge in der menſchlichen Geſellſchaft iſt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/203>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.