Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Entstehung der Wissenschaft. an die Verwirklichung derselben durch eine besondere Klasse vonPersonen gebunden. Nun war aber erst mit dem Anwachsen des Reichthums die Bedingung dafür geschaffen, daß einzelne Personen sich ganz und in geschichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur widmeten. Diesen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten sich durch eine weltgeschichtliche Fügung seltenster Art zu derselben Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbesondere während der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo- metrie, wie sie sich als eine praktische Kunst und eine Summe einzelner Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer astro- nomischer Beobachtung und Aufzeichnung, wie sie auf den Stern- warten des Ostens bestand, wurden nun von ihnen zu einer Orientirung in dem Weltraume benutzt, dessen Bild das mythische Vorstellen überliefert hatte. Damit traten die Griechen in eine geistige Bewegung ein, Entſtehung der Wiſſenſchaft. an die Verwirklichung derſelben durch eine beſondere Klaſſe vonPerſonen gebunden. Nun war aber erſt mit dem Anwachſen des Reichthums die Bedingung dafür geſchaffen, daß einzelne Perſonen ſich ganz und in geſchichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur widmeten. Dieſen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten ſich durch eine weltgeſchichtliche Fügung ſeltenſter Art zu derſelben Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbeſondere während der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo- metrie, wie ſie ſich als eine praktiſche Kunſt und eine Summe einzelner Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer aſtro- nomiſcher Beobachtung und Aufzeichnung, wie ſie auf den Stern- warten des Oſtens beſtand, wurden nun von ihnen zu einer Orientirung in dem Weltraume benutzt, deſſen Bild das mythiſche Vorſtellen überliefert hatte. Damit traten die Griechen in eine geiſtige Bewegung ein, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0204" n="181"/><fw place="top" type="header">Entſtehung der Wiſſenſchaft.</fw><lb/> an die Verwirklichung derſelben durch eine beſondere Klaſſe von<lb/> Perſonen gebunden. Nun war aber erſt mit dem Anwachſen des<lb/> Reichthums die Bedingung dafür geſchaffen, daß einzelne Perſonen<lb/> ſich ganz und in geſchichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur<lb/> widmeten. Dieſen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten<lb/> ſich durch eine weltgeſchichtliche Fügung ſeltenſter Art zu derſelben<lb/> Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbeſondere während<lb/> der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo-<lb/> metrie, wie ſie ſich als eine praktiſche Kunſt und eine Summe einzelner<lb/> Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer aſtro-<lb/> nomiſcher Beobachtung und Aufzeichnung, wie ſie auf den Stern-<lb/> warten des Oſtens beſtand, wurden nun von ihnen zu einer<lb/> Orientirung in dem Weltraume benutzt, deſſen Bild das mythiſche<lb/> Vorſtellen überliefert hatte.</p><lb/> <p>Damit traten die Griechen in eine geiſtige Bewegung ein,<lb/> deren größerer, in den Orient zurückreichender Zuſammenhang<lb/> uns bis jetzt unzureichend bekannt iſt. Sie iſt aber durch den<lb/> Zweckzuſammenhang des Erkennens bedingt. Die Wirklichkeit<lb/> kann nur durch Ausſonderung einzelner Theilinhalte ſowie durch<lb/> die abgeſonderte Erkenntniß derſelben dem Gedanken unterworfen<lb/> werden; denn in ihrer komplexen Form iſt ſie für denſelben nicht<lb/> anfaßbar. Die erſte Wiſſenſchaft, welche durch dies Verfahren<lb/> entſtand, iſt die <hi rendition="#g">Mathematik</hi> geweſen. Raum und Zahl ſind<lb/> von der Wirklichkeit früh abgeſondert worden, und ſie ſind<lb/> einer rationalen Behandlung ganz zugänglich. Die Betrachtung<lb/> begrenzter Flächen und Körper wird leicht aus der Anſchauung<lb/> der wirklichen Dinge abſtrahirt; von ſolchen abgeſchloſſenen<lb/> Gebilden ging die geometriſche Unterſuchung aus; Geometrie<lb/> und Zahlenlehre waren gemäß der Natur ihres Gegenſtandes die<lb/> erſten Wiſſenſchaften, welche zu klaren Wahrheiten gelangten.<lb/> Dieſer Gang der Analyſis der Wirklichkeit war vor dem<lb/> Eintreten der Griechen in den Zuſammenhang des Erkennens ſchon<lb/> eingeſchlagen, nun kam ihm die Eigenthümlichkeit des griechiſchen<lb/> Geiſtes entgegen. Anſchauungskraft und Formſinn bildeten die<lb/> auszeichnenden Eigenthümlichkeiten dieſes Geiſtes; dies zeigt ſich<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [181/0204]
Entſtehung der Wiſſenſchaft.
an die Verwirklichung derſelben durch eine beſondere Klaſſe von
Perſonen gebunden. Nun war aber erſt mit dem Anwachſen des
Reichthums die Bedingung dafür geſchaffen, daß einzelne Perſonen
ſich ganz und in geſchichtlicher Kontinuität dem Erkennen der Natur
widmeten. Dieſen unabhängigen, weltbewanderten Männern öffneten
ſich durch eine weltgeſchichtliche Fügung ſeltenſter Art zu derſelben
Zeit die uralten Stätten der Kultur im Orient, insbeſondere während
der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts Egypten. Die Geo-
metrie, wie ſie ſich als eine praktiſche Kunſt und eine Summe einzelner
Sätze in Egypten entwickelt hatte, und die Tradition langer aſtro-
nomiſcher Beobachtung und Aufzeichnung, wie ſie auf den Stern-
warten des Oſtens beſtand, wurden nun von ihnen zu einer
Orientirung in dem Weltraume benutzt, deſſen Bild das mythiſche
Vorſtellen überliefert hatte.
Damit traten die Griechen in eine geiſtige Bewegung ein,
deren größerer, in den Orient zurückreichender Zuſammenhang
uns bis jetzt unzureichend bekannt iſt. Sie iſt aber durch den
Zweckzuſammenhang des Erkennens bedingt. Die Wirklichkeit
kann nur durch Ausſonderung einzelner Theilinhalte ſowie durch
die abgeſonderte Erkenntniß derſelben dem Gedanken unterworfen
werden; denn in ihrer komplexen Form iſt ſie für denſelben nicht
anfaßbar. Die erſte Wiſſenſchaft, welche durch dies Verfahren
entſtand, iſt die Mathematik geweſen. Raum und Zahl ſind
von der Wirklichkeit früh abgeſondert worden, und ſie ſind
einer rationalen Behandlung ganz zugänglich. Die Betrachtung
begrenzter Flächen und Körper wird leicht aus der Anſchauung
der wirklichen Dinge abſtrahirt; von ſolchen abgeſchloſſenen
Gebilden ging die geometriſche Unterſuchung aus; Geometrie
und Zahlenlehre waren gemäß der Natur ihres Gegenſtandes die
erſten Wiſſenſchaften, welche zu klaren Wahrheiten gelangten.
Dieſer Gang der Analyſis der Wirklichkeit war vor dem
Eintreten der Griechen in den Zuſammenhang des Erkennens ſchon
eingeſchlagen, nun kam ihm die Eigenthümlichkeit des griechiſchen
Geiſtes entgegen. Anſchauungskraft und Formſinn bildeten die
auszeichnenden Eigenthümlichkeiten dieſes Geiſtes; dies zeigt ſich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |