Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. die sich in Allgemeinbegriffen darstellen, besessen hat. Die Einennahmen nun einen realen Vorgang logischer Specifikation in der Substanz der Dinge an, mochten sie diese nach der Formel einer Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung vorstellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in sich gleichen Stoff zuerst Formen der obersten Gattungen, innerhalb jeder derselben solche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts bis Individuen entstehen 1). Die Anderen verwarfen einen solchen realen Proceß logischer Specifikation und begnügten sich mit der Annahme einer realen Beziehung zwischen dem göttlichen Verstande, in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der sie durch ihn eingebildet sind, und dem menschlichen Verstande, durch den sie an den Dingen herausgehoben werden können 2). Der Nomina- lismus bildete den gemeinsamen Charakter einer dritten Klasse von Dialektikern. -- Das Schicksal dieser drei Richtungen war wesentlich bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die erste mußte, wie ihr Abälard's Scharfsinn nachwies, folgerecht auf die wesenhafte Einheit derselben Substanz und damit auf den Pan- theismus führen 3). Die letzte derselben, die nominalistische Theorie, erwies sich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu dienen, bis sie in einem späteren Stadium zu der inneren Er- fahrung in Beziehung gesetzt wurde. Das war der Grund, aus welchem sie in diesem ersten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens sich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des Roscellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung, sondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung ab. Nun beruhte aber auf diesem letzteren Verhältniß der ganze Zusammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage 1) Scotus Erigena z. B. de divisione naturae I c. 29 ff. p. 475 B, IV c. 4 p. 748; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift de generibus (ouvrages inedits d'Abelard p. Cousin) p. 513 f. und in Abälard's epist. I c. 2 p. 119. 2) Zu ihnen gehörte Abälard, vgl. introductio ad theolog. II c. 13 p. 1070. 3) In den glossulae super Porphyrium nach dem Auszug von Remusat
Abälard II p. 98. Dazu trat die logische Unhaltbarkeit dieses Realismus, welche de generibus p. 514 ff. entwickelt ist. Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. die ſich in Allgemeinbegriffen darſtellen, beſeſſen hat. Die Einennahmen nun einen realen Vorgang logiſcher Specifikation in der Subſtanz der Dinge an, mochten ſie dieſe nach der Formel einer Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung vorſtellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in ſich gleichen Stoff zuerſt Formen der oberſten Gattungen, innerhalb jeder derſelben ſolche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts bis Individuen entſtehen 1). Die Anderen verwarfen einen ſolchen realen Proceß logiſcher Specifikation und begnügten ſich mit der Annahme einer realen Beziehung zwiſchen dem göttlichen Verſtande, in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der ſie durch ihn eingebildet ſind, und dem menſchlichen Verſtande, durch den ſie an den Dingen herausgehoben werden können 2). Der Nomina- lismus bildete den gemeinſamen Charakter einer dritten Klaſſe von Dialektikern. — Das Schickſal dieſer drei Richtungen war weſentlich bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die erſte mußte, wie ihr Abälard’s Scharfſinn nachwies, folgerecht auf die weſenhafte Einheit derſelben Subſtanz und damit auf den Pan- theismus führen 3). Die letzte derſelben, die nominaliſtiſche Theorie, erwies ſich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu dienen, bis ſie in einem ſpäteren Stadium zu der inneren Er- fahrung in Beziehung geſetzt wurde. Das war der Grund, aus welchem ſie in dieſem erſten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens ſich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des Roſcellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung, ſondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung ab. Nun beruhte aber auf dieſem letzteren Verhältniß der ganze Zuſammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage 1) Scotus Erigena z. B. de divisione naturae I c. 29 ff. p. 475 B, IV c. 4 p. 748; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift de generibus (ouvrages inédits d’Abélard p. Cousin) p. 513 f. und in Abälard’s epist. I c. 2 p. 119. 2) Zu ihnen gehörte Abälard, vgl. introductio ad theolog. II c. 13 p. 1070. 3) In den glossulae super Porphyrium nach dem Auszug von Rémuſat
Abälard II p. 98. Dazu trat die logiſche Unhaltbarkeit dieſes Realismus, welche de generibus p. 514 ff. entwickelt iſt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0373" n="350"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> die ſich in Allgemeinbegriffen darſtellen, beſeſſen hat. Die Einen<lb/> nahmen nun einen realen Vorgang logiſcher Specifikation in der<lb/> Subſtanz der Dinge an, mochten ſie dieſe nach der Formel einer<lb/> Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung<lb/> vorſtellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in ſich<lb/> gleichen Stoff zuerſt Formen der oberſten Gattungen, innerhalb<lb/> jeder derſelben ſolche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts<lb/> bis Individuen entſtehen <note place="foot" n="1)">Scotus Erigena z. B. <hi rendition="#aq">de divisione naturae I c.</hi> 29 ff. <hi rendition="#aq">p. 475 <hi rendition="#k">B</hi>,<lb/> IV c. 4 p. 748</hi>; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift<lb/><hi rendition="#aq">de generibus (ouvrages inédits d’Abélard p. Cousin) p.</hi> 513 f. und in<lb/> Abälard’s <hi rendition="#aq">epist. I c. 2 p. 119</hi>.</note>. Die Anderen verwarfen einen ſolchen<lb/> realen Proceß logiſcher Specifikation und begnügten ſich mit der<lb/> Annahme einer realen Beziehung zwiſchen dem göttlichen Verſtande,<lb/> in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der ſie durch<lb/> ihn eingebildet ſind, und dem menſchlichen Verſtande, durch den<lb/> ſie an den Dingen herausgehoben werden können <note place="foot" n="2)">Zu ihnen gehörte Abälard, vgl. <hi rendition="#aq">introductio ad theolog. II c. 13 p. 1070</hi>.</note>. Der Nomina-<lb/> lismus bildete den gemeinſamen Charakter einer dritten Klaſſe von<lb/> Dialektikern. — Das Schickſal dieſer drei Richtungen war weſentlich<lb/> bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die<lb/> erſte mußte, wie ihr Abälard’s Scharfſinn nachwies, folgerecht auf<lb/> die weſenhafte Einheit derſelben Subſtanz und damit auf den Pan-<lb/> theismus führen <note place="foot" n="3)">In den <hi rendition="#aq">glossulae super Porphyrium</hi> nach dem Auszug von R<hi rendition="#aq">é</hi>muſat<lb/> Abälard <hi rendition="#aq">II p.</hi> 98. Dazu trat die logiſche Unhaltbarkeit dieſes Realismus,<lb/> welche <hi rendition="#aq">de generibus p.</hi> 514 ff. entwickelt iſt.</note>. Die letzte derſelben, die nominaliſtiſche Theorie,<lb/> erwies ſich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu<lb/> dienen, bis ſie in einem ſpäteren Stadium zu der inneren Er-<lb/> fahrung in Beziehung geſetzt wurde. Das war der Grund, aus<lb/> welchem ſie in dieſem erſten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens<lb/> ſich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des<lb/> Roſcellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung,<lb/> ſondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung<lb/> ab. Nun beruhte aber auf dieſem letzteren Verhältniß der ganze<lb/> Zuſammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [350/0373]
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
die ſich in Allgemeinbegriffen darſtellen, beſeſſen hat. Die Einen
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Subſtanz der Dinge an, mochten ſie dieſe nach der Formel einer
Emanation, wie Scotus Erigena, oder nach der einer Schöpfung
vorſtellen. So treten nach Wilhelm von Champeaux zu dem in ſich
gleichen Stoff zuerſt Formen der oberſten Gattungen, innerhalb
jeder derſelben ſolche, welche die Gattung zu Arten gliedern, abwärts
bis Individuen entſtehen 1). Die Anderen verwarfen einen ſolchen
realen Proceß logiſcher Specifikation und begnügten ſich mit der
Annahme einer realen Beziehung zwiſchen dem göttlichen Verſtande,
in welchem die Formen wohnen, der Wirklichkeit, der ſie durch
ihn eingebildet ſind, und dem menſchlichen Verſtande, durch den
ſie an den Dingen herausgehoben werden können 2). Der Nomina-
lismus bildete den gemeinſamen Charakter einer dritten Klaſſe von
Dialektikern. — Das Schickſal dieſer drei Richtungen war weſentlich
bedingt durch ihr Verhältniß zur Aufgabe der Theologie. Die
erſte mußte, wie ihr Abälard’s Scharfſinn nachwies, folgerecht auf
die weſenhafte Einheit derſelben Subſtanz und damit auf den Pan-
theismus führen 3). Die letzte derſelben, die nominaliſtiſche Theorie,
erwies ſich als ganz unfähig, der Theologie als Grundlage zu
dienen, bis ſie in einem ſpäteren Stadium zu der inneren Er-
fahrung in Beziehung geſetzt wurde. Das war der Grund, aus
welchem ſie in dieſem erſten Zeitraum des mittelalterlichen Denkens
ſich nicht behaupten konnte. Sprach doch der Nominalismus des
Roſcellinus nicht nur der Beziehung des Einzeldings zur Gattung,
ſondern auch der des Theils zum Ganzen jede objektive Geltung
ab. Nun beruhte aber auf dieſem letzteren Verhältniß der ganze
Zuſammenhang des göttlichen Heilsplanes, wie er die Grundlage
1) Scotus Erigena z. B. de divisione naturae I c. 29 ff. p. 475 B,
IV c. 4 p. 748; Wilhelm von Champeaux nach dem Bericht in der Schrift
de generibus (ouvrages inédits d’Abélard p. Cousin) p. 513 f. und in
Abälard’s epist. I c. 2 p. 119.
2) Zu ihnen gehörte Abälard, vgl. introductio ad theolog. II c. 13 p. 1070.
3) In den glossulae super Porphyrium nach dem Auszug von Rémuſat
Abälard II p. 98. Dazu trat die logiſche Unhaltbarkeit dieſes Realismus,
welche de generibus p. 514 ff. entwickelt iſt.
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