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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
dürfen erklärte, war ebenso nur der Ausdruck für einen anderen
Theil dieser Bedingungen, die unter Annahme von Materie, Raum,
Zeit, Ursache, Substanz zur Erklärung der Wirklichkeit ihm noth-
wendig erschienen. Sonach ist ein strenger Beweis für das
Dasein Gottes von dem Kosmos aus so lange unmög-
lich
, als nicht die objektive Gültigkeit eines abgeschlossenen
Systems von Naturbegriffen ihm zu Grunde gelegt werden
kann. -- Wir heben einzelne Bedenken noch besonders hervor. Ein
solcher Beweis stünde unter der Voraussetzung der Anwendbarkeit
des Kausalbegriffs auf den Weltzusammenhang; wie schon mittel-
alterliche Philosophen feststellten, würde er nicht gestatten, auf
einen Weltschöpfer zu schließen, sondern nur, nach Kant's Aus-
druck, "auf einen Weltbaumeister, der durch die Tauglichkeit des
Stoffes, den er bearbeitet, immer sehr eingeschränkt wäre"; er würde
nicht über eine der erkannten gedankenmäßigen Einheit proportionale
Ursache hinausführen, und Schritt für Schritt haben sich in der
neueren Zeit die Naturbegriffe über diese gedankenmäßige Einheit
so geändert, daß der Zwang des Schlusses auf ein selbständiges,
von der Welt unterschiedenes persönliches Wesen aufhörte.

Von jedem solchen einzelnen Beweis verschieden ist das ihnen
allen zu Grunde liegende Bewußtsein von Gedankenmäßigkeit, welches
mit der Betrachtung der Bahnen und Abmessungen der Gestirne, so-
wie der Formen der organischen Welt verknüpft ist: dieses drückt nur
aus, daß wir über uns hinaus in ein dem menschlichen Gedanken
Analoges, ihm in der Welt Entsprechendes blicken. Es ist die
eine Seite des unvertilgbaren Gottesbewußtseins der Menschheit,
und wie es die einzelnen Beweise hervorbringt, bleibt es bestehen,
nachdem sie aufgelöst sind, aber für sich enthält es nicht die Ge-
wißheit eines von der Welt unterschiedenen persönlichen Wesens 1).

Es giebt neben dieser Schlußart nur Eine andere, welche wir
als die psychologische bezeichnen. Sie hat in der Analysis der
inneren Erfahrung
ihren Ausgangspunkt; hier findet sie psy-

1) Die Voraussetzung der Schlüsse aus der Welt auf einen von ihr
unterschiedenen Gott, daß ein regressus in infinitum unmöglich sei, ist von
Occam aufgelöst worden.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
dürfen erklärte, war ebenſo nur der Ausdruck für einen anderen
Theil dieſer Bedingungen, die unter Annahme von Materie, Raum,
Zeit, Urſache, Subſtanz zur Erklärung der Wirklichkeit ihm noth-
wendig erſchienen. Sonach iſt ein ſtrenger Beweis für das
Daſein Gottes von dem Kosmos aus ſo lange unmög-
lich
, als nicht die objektive Gültigkeit eines abgeſchloſſenen
Syſtems von Naturbegriffen ihm zu Grunde gelegt werden
kann. — Wir heben einzelne Bedenken noch beſonders hervor. Ein
ſolcher Beweis ſtünde unter der Vorausſetzung der Anwendbarkeit
des Kauſalbegriffs auf den Weltzuſammenhang; wie ſchon mittel-
alterliche Philoſophen feſtſtellten, würde er nicht geſtatten, auf
einen Weltſchöpfer zu ſchließen, ſondern nur, nach Kant’s Aus-
druck, „auf einen Weltbaumeiſter, der durch die Tauglichkeit des
Stoffes, den er bearbeitet, immer ſehr eingeſchränkt wäre“; er würde
nicht über eine der erkannten gedankenmäßigen Einheit proportionale
Urſache hinausführen, und Schritt für Schritt haben ſich in der
neueren Zeit die Naturbegriffe über dieſe gedankenmäßige Einheit
ſo geändert, daß der Zwang des Schluſſes auf ein ſelbſtändiges,
von der Welt unterſchiedenes perſönliches Weſen aufhörte.

Von jedem ſolchen einzelnen Beweis verſchieden iſt das ihnen
allen zu Grunde liegende Bewußtſein von Gedankenmäßigkeit, welches
mit der Betrachtung der Bahnen und Abmeſſungen der Geſtirne, ſo-
wie der Formen der organiſchen Welt verknüpft iſt: dieſes drückt nur
aus, daß wir über uns hinaus in ein dem menſchlichen Gedanken
Analoges, ihm in der Welt Entſprechendes blicken. Es iſt die
eine Seite des unvertilgbaren Gottesbewußtſeins der Menſchheit,
und wie es die einzelnen Beweiſe hervorbringt, bleibt es beſtehen,
nachdem ſie aufgelöſt ſind, aber für ſich enthält es nicht die Ge-
wißheit eines von der Welt unterſchiedenen perſönlichen Weſens 1).

Es giebt neben dieſer Schlußart nur Eine andere, welche wir
als die pſychologiſche bezeichnen. Sie hat in der Analyſis der
inneren Erfahrung
ihren Ausgangspunkt; hier findet ſie pſy-

1) Die Vorausſetzung der Schlüſſe aus der Welt auf einen von ihr
unterſchiedenen Gott, daß ein regressus in infinitum unmöglich ſei, iſt von
Occam aufgelöſt worden.
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[392/0415] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. dürfen erklärte, war ebenſo nur der Ausdruck für einen anderen Theil dieſer Bedingungen, die unter Annahme von Materie, Raum, Zeit, Urſache, Subſtanz zur Erklärung der Wirklichkeit ihm noth- wendig erſchienen. Sonach iſt ein ſtrenger Beweis für das Daſein Gottes von dem Kosmos aus ſo lange unmög- lich, als nicht die objektive Gültigkeit eines abgeſchloſſenen Syſtems von Naturbegriffen ihm zu Grunde gelegt werden kann. — Wir heben einzelne Bedenken noch beſonders hervor. Ein ſolcher Beweis ſtünde unter der Vorausſetzung der Anwendbarkeit des Kauſalbegriffs auf den Weltzuſammenhang; wie ſchon mittel- alterliche Philoſophen feſtſtellten, würde er nicht geſtatten, auf einen Weltſchöpfer zu ſchließen, ſondern nur, nach Kant’s Aus- druck, „auf einen Weltbaumeiſter, der durch die Tauglichkeit des Stoffes, den er bearbeitet, immer ſehr eingeſchränkt wäre“; er würde nicht über eine der erkannten gedankenmäßigen Einheit proportionale Urſache hinausführen, und Schritt für Schritt haben ſich in der neueren Zeit die Naturbegriffe über dieſe gedankenmäßige Einheit ſo geändert, daß der Zwang des Schluſſes auf ein ſelbſtändiges, von der Welt unterſchiedenes perſönliches Weſen aufhörte. Von jedem ſolchen einzelnen Beweis verſchieden iſt das ihnen allen zu Grunde liegende Bewußtſein von Gedankenmäßigkeit, welches mit der Betrachtung der Bahnen und Abmeſſungen der Geſtirne, ſo- wie der Formen der organiſchen Welt verknüpft iſt: dieſes drückt nur aus, daß wir über uns hinaus in ein dem menſchlichen Gedanken Analoges, ihm in der Welt Entſprechendes blicken. Es iſt die eine Seite des unvertilgbaren Gottesbewußtſeins der Menſchheit, und wie es die einzelnen Beweiſe hervorbringt, bleibt es beſtehen, nachdem ſie aufgelöſt ſind, aber für ſich enthält es nicht die Ge- wißheit eines von der Welt unterſchiedenen perſönlichen Weſens 1). Es giebt neben dieſer Schlußart nur Eine andere, welche wir als die pſychologiſche bezeichnen. Sie hat in der Analyſis der inneren Erfahrung ihren Ausgangspunkt; hier findet ſie pſy- 1) Die Vorausſetzung der Schlüſſe aus der Welt auf einen von ihr unterſchiedenen Gott, daß ein regressus in infinitum unmöglich ſei, iſt von Occam aufgelöſt worden.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/415>, abgerufen am 22.11.2024.