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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die andere Schlußart ist die aus der inneren Erfahrung.
chologische Bestandtheile zu einer lebendigen und persönlichen Ueber-
zeugung verbunden, welche unabhängig von aller Naturerkenntniß
den Frommen des Daseins Gottes versichern. So führt die freie
und der Aufopferung des eignen Selbst fähige Moralität eines
Wesens, welches sich doch nicht als seinen eigenen Schöpfer zu
betrachten vermag, dasselbe über alle Naturbegriffe hinaus und
setzt als ihre Bedingung einen göttlichen Willen. Die Art, wie wir
die Vergänglichkeit in uns fühlen, alsdann den Irrthum
sowie die Unvollkommenheit dessen, was wir sind, schließt,
psychologisch angesehen, in sich, daß ein Maßstab für uns da ist,
welcher über dies Alles hinausreicht; käme diesem Maßstab keine
Realität zu, dann wäre das Gefühl von Unvollkommenheit und
Schuld eine leere Sentimentalität, die die Wirklichkeit an unwirk-
lichen Gedankenbildern messen würde. Das lebendige Bewußt-
sein
der sittlichen Werthe fordert, daß sie nicht als Nebenerfolg
des Naturzusammenhangs im Bewußtsein aufgefaßt werden, sondern
als eine machtvolle Realität, auf welche die Gestaltung der Welt
hingerichtet und welcher in der Weltordnung der Sieg gesichert ist.
Hatte das antike Denken die in dem Beweis aus der einheitlichen
Gedankenmäßigkeit des Kosmos entwickelte Seite unserer meta-
physischen Besinnung zur Darstellung gebracht, so richtete sich das
christliche vornehmlich auf diese andere Seite derselben, die Tiefen
unseres Selbst durchmessend und die Erfahrungen des Willens
aufrichtig im Innern zu vernehmen bemüht. Wol hat das Christen-
thum in dem monotheistischen Ergebniß der antiken Wissenschaft
des Kosmos seine geschichtliche Voraussetzung und in dem Bewußt-
sein der Gedankenmäßigkeit des Weltganzen einen bleibenden Be-
standtheil seines Gottesgedankens; aber die Gewißheit Gottes, der
für es mehr als eine intelligente Ursache ist, liegt ihm in erster
Linie in den Erfahrungen des Gemüths und des Willens, und die
ganze Literatur der Väter und des Mittelalters ist von Schlüssen
aus diesen inneren Erfahrungen auf das Dasein Gottes durchzogen,
unter denen die drei oben angegebenen besonders hervortreten 1).

1) Aus dem großen Material können keine einzelnen Belege heraus-
gehoben werden. Thomas verweist ausdrücklich diese Begründung nur darum

Die andere Schlußart iſt die aus der inneren Erfahrung.
chologiſche Beſtandtheile zu einer lebendigen und perſönlichen Ueber-
zeugung verbunden, welche unabhängig von aller Naturerkenntniß
den Frommen des Daſeins Gottes verſichern. So führt die freie
und der Aufopferung des eignen Selbſt fähige Moralität eines
Weſens, welches ſich doch nicht als ſeinen eigenen Schöpfer zu
betrachten vermag, daſſelbe über alle Naturbegriffe hinaus und
ſetzt als ihre Bedingung einen göttlichen Willen. Die Art, wie wir
die Vergänglichkeit in uns fühlen, alsdann den Irrthum
ſowie die Unvollkommenheit deſſen, was wir ſind, ſchließt,
pſychologiſch angeſehen, in ſich, daß ein Maßſtab für uns da iſt,
welcher über dies Alles hinausreicht; käme dieſem Maßſtab keine
Realität zu, dann wäre das Gefühl von Unvollkommenheit und
Schuld eine leere Sentimentalität, die die Wirklichkeit an unwirk-
lichen Gedankenbildern meſſen würde. Das lebendige Bewußt-
ſein
der ſittlichen Werthe fordert, daß ſie nicht als Nebenerfolg
des Naturzuſammenhangs im Bewußtſein aufgefaßt werden, ſondern
als eine machtvolle Realität, auf welche die Geſtaltung der Welt
hingerichtet und welcher in der Weltordnung der Sieg geſichert iſt.
Hatte das antike Denken die in dem Beweis aus der einheitlichen
Gedankenmäßigkeit des Kosmos entwickelte Seite unſerer meta-
phyſiſchen Beſinnung zur Darſtellung gebracht, ſo richtete ſich das
chriſtliche vornehmlich auf dieſe andere Seite derſelben, die Tiefen
unſeres Selbſt durchmeſſend und die Erfahrungen des Willens
aufrichtig im Innern zu vernehmen bemüht. Wol hat das Chriſten-
thum in dem monotheiſtiſchen Ergebniß der antiken Wiſſenſchaft
des Kosmos ſeine geſchichtliche Vorausſetzung und in dem Bewußt-
ſein der Gedankenmäßigkeit des Weltganzen einen bleibenden Be-
ſtandtheil ſeines Gottesgedankens; aber die Gewißheit Gottes, der
für es mehr als eine intelligente Urſache iſt, liegt ihm in erſter
Linie in den Erfahrungen des Gemüths und des Willens, und die
ganze Literatur der Väter und des Mittelalters iſt von Schlüſſen
aus dieſen inneren Erfahrungen auf das Daſein Gottes durchzogen,
unter denen die drei oben angegebenen beſonders hervortreten 1).

1) Aus dem großen Material können keine einzelnen Belege heraus-
gehoben werden. Thomas verweiſt ausdrücklich dieſe Begründung nur darum
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[393/0416] Die andere Schlußart iſt die aus der inneren Erfahrung. chologiſche Beſtandtheile zu einer lebendigen und perſönlichen Ueber- zeugung verbunden, welche unabhängig von aller Naturerkenntniß den Frommen des Daſeins Gottes verſichern. So führt die freie und der Aufopferung des eignen Selbſt fähige Moralität eines Weſens, welches ſich doch nicht als ſeinen eigenen Schöpfer zu betrachten vermag, daſſelbe über alle Naturbegriffe hinaus und ſetzt als ihre Bedingung einen göttlichen Willen. Die Art, wie wir die Vergänglichkeit in uns fühlen, alsdann den Irrthum ſowie die Unvollkommenheit deſſen, was wir ſind, ſchließt, pſychologiſch angeſehen, in ſich, daß ein Maßſtab für uns da iſt, welcher über dies Alles hinausreicht; käme dieſem Maßſtab keine Realität zu, dann wäre das Gefühl von Unvollkommenheit und Schuld eine leere Sentimentalität, die die Wirklichkeit an unwirk- lichen Gedankenbildern meſſen würde. Das lebendige Bewußt- ſein der ſittlichen Werthe fordert, daß ſie nicht als Nebenerfolg des Naturzuſammenhangs im Bewußtſein aufgefaßt werden, ſondern als eine machtvolle Realität, auf welche die Geſtaltung der Welt hingerichtet und welcher in der Weltordnung der Sieg geſichert iſt. Hatte das antike Denken die in dem Beweis aus der einheitlichen Gedankenmäßigkeit des Kosmos entwickelte Seite unſerer meta- phyſiſchen Beſinnung zur Darſtellung gebracht, ſo richtete ſich das chriſtliche vornehmlich auf dieſe andere Seite derſelben, die Tiefen unſeres Selbſt durchmeſſend und die Erfahrungen des Willens aufrichtig im Innern zu vernehmen bemüht. Wol hat das Chriſten- thum in dem monotheiſtiſchen Ergebniß der antiken Wiſſenſchaft des Kosmos ſeine geſchichtliche Vorausſetzung und in dem Bewußt- ſein der Gedankenmäßigkeit des Weltganzen einen bleibenden Be- ſtandtheil ſeines Gottesgedankens; aber die Gewißheit Gottes, der für es mehr als eine intelligente Urſache iſt, liegt ihm in erſter Linie in den Erfahrungen des Gemüths und des Willens, und die ganze Literatur der Väter und des Mittelalters iſt von Schlüſſen aus dieſen inneren Erfahrungen auf das Daſein Gottes durchzogen, unter denen die drei oben angegebenen beſonders hervortreten 1). 1) Aus dem großen Material können keine einzelnen Belege heraus- gehoben werden. Thomas verweiſt ausdrücklich dieſe Begründung nur darum

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/416>, abgerufen am 22.11.2024.