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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Wie so Vieles im Mittelalter symbolisch ist, war damals dieser
Zusammenhang der sittlichen Ordnung in Gott an der Hierarchie
sichtbar, in welcher Gnade und Gewalt von Gott abwärts floßen;
jedes Meßopfer ließ die Gegenwart Gottes im Diesseits gewahren.

Was so dem Frommen auf subjektive und persönliche Weise
gewiß war und Kirchenväter wie mittelalterliche Schriftsteller in
unzähligen Formen frei und persönlich ausgesprochen haben,
das wollte die christliche Metaphysik auf einen für Alle
zwingenden Schluß
bringen. Und zwar hat diese psycholo-
gische Begründung die am meisten abstrakte begriffliche Fassung
in dem ontologischen Beweis erhalten. Anselm setzte sich die tief-
gedachte Aufgabe, eine Begründung Gottes zu finden, welche die
Existenz und Beschaffenheit der Welt nicht zur Voraussetzung habe.
Er leitete aus dem Begriff Gottes durch logische Analysis die
Einsicht in sein Dasein ab. Die Unhaltbarkeit des so entstehenden
ontologischen Beweises ist von Gaunilo bis Thomas von Aquino
und von diesem bis Kant überzeugend gezeigt worden; nicht in
dem abstrakten Begriff Gottes, sondern in dem lebendigen
Zusammenhang des Gottesgedankens mit der Totalität des
psychischen Lebens ist eine von der Wissenschaft des Kosmos un-
abhängige Gewißheit Gottes begründet. Dieser lebendige und
natürliche Zusammenhang ist in dem früheren Beweis Anselms
angemessener ausgedrückt; hier wird als Grundlage unseres Be-
wußtseins von verschiedenen Graden des Guten und Vollkommenen
das eines höchsten Gutes, einer unbedingten Vollkommenheit auf-
gezeigt. So wird auf Gott als das höchste Gut geschlossen, im
Unterschied von dem Schluß auf ihn als intelligente Ursache 1).

aus seiner Beweisführung, weil sie keine allgemeingültige Fassung gestattet,
summa theol. p. I quaest. 2 art. 1. Der Fortgang vom Streben nach dem
höchsten Gut zu der Befriedigung in Gott wird in der Regel im Mittel-
alter nach Augustinus (vgl. S. 333) dargestellt; an ihn schließen sich die
Mystiker, unter denen schon Hugo von St. Viktor den Beweis aus
der Welt
von der Begründung aus dem religiösen Erlebniß
unterscheidet
.
1) Die Voraussetzung des ontologischen Beweises, welcher aus dem
esse in intellectu für das Wesen, quo majus cogitari non potest, das esse

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Wie ſo Vieles im Mittelalter ſymboliſch iſt, war damals dieſer
Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung in Gott an der Hierarchie
ſichtbar, in welcher Gnade und Gewalt von Gott abwärts floßen;
jedes Meßopfer ließ die Gegenwart Gottes im Dieſſeits gewahren.

Was ſo dem Frommen auf ſubjektive und perſönliche Weiſe
gewiß war und Kirchenväter wie mittelalterliche Schriftſteller in
unzähligen Formen frei und perſönlich ausgeſprochen haben,
das wollte die chriſtliche Metaphyſik auf einen für Alle
zwingenden Schluß
bringen. Und zwar hat dieſe pſycholo-
giſche Begründung die am meiſten abſtrakte begriffliche Faſſung
in dem ontologiſchen Beweis erhalten. Anſelm ſetzte ſich die tief-
gedachte Aufgabe, eine Begründung Gottes zu finden, welche die
Exiſtenz und Beſchaffenheit der Welt nicht zur Vorausſetzung habe.
Er leitete aus dem Begriff Gottes durch logiſche Analyſis die
Einſicht in ſein Daſein ab. Die Unhaltbarkeit des ſo entſtehenden
ontologiſchen Beweiſes iſt von Gaunilo bis Thomas von Aquino
und von dieſem bis Kant überzeugend gezeigt worden; nicht in
dem abſtrakten Begriff Gottes, ſondern in dem lebendigen
Zuſammenhang des Gottesgedankens mit der Totalität des
pſychiſchen Lebens iſt eine von der Wiſſenſchaft des Kosmos un-
abhängige Gewißheit Gottes begründet. Dieſer lebendige und
natürliche Zuſammenhang iſt in dem früheren Beweis Anſelms
angemeſſener ausgedrückt; hier wird als Grundlage unſeres Be-
wußtſeins von verſchiedenen Graden des Guten und Vollkommenen
das eines höchſten Gutes, einer unbedingten Vollkommenheit auf-
gezeigt. So wird auf Gott als das höchſte Gut geſchloſſen, im
Unterſchied von dem Schluß auf ihn als intelligente Urſache 1).

aus ſeiner Beweisführung, weil ſie keine allgemeingültige Faſſung geſtattet,
summa theol. p. I quaest. 2 art. 1. Der Fortgang vom Streben nach dem
höchſten Gut zu der Befriedigung in Gott wird in der Regel im Mittel-
alter nach Auguſtinus (vgl. S. 333) dargeſtellt; an ihn ſchließen ſich die
Myſtiker, unter denen ſchon Hugo von St. Viktor den Beweis aus
der Welt
von der Begründung aus dem religiöſen Erlebniß
unterſcheidet
.
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[394/0417] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Wie ſo Vieles im Mittelalter ſymboliſch iſt, war damals dieſer Zuſammenhang der ſittlichen Ordnung in Gott an der Hierarchie ſichtbar, in welcher Gnade und Gewalt von Gott abwärts floßen; jedes Meßopfer ließ die Gegenwart Gottes im Dieſſeits gewahren. Was ſo dem Frommen auf ſubjektive und perſönliche Weiſe gewiß war und Kirchenväter wie mittelalterliche Schriftſteller in unzähligen Formen frei und perſönlich ausgeſprochen haben, das wollte die chriſtliche Metaphyſik auf einen für Alle zwingenden Schluß bringen. Und zwar hat dieſe pſycholo- giſche Begründung die am meiſten abſtrakte begriffliche Faſſung in dem ontologiſchen Beweis erhalten. Anſelm ſetzte ſich die tief- gedachte Aufgabe, eine Begründung Gottes zu finden, welche die Exiſtenz und Beſchaffenheit der Welt nicht zur Vorausſetzung habe. Er leitete aus dem Begriff Gottes durch logiſche Analyſis die Einſicht in ſein Daſein ab. Die Unhaltbarkeit des ſo entſtehenden ontologiſchen Beweiſes iſt von Gaunilo bis Thomas von Aquino und von dieſem bis Kant überzeugend gezeigt worden; nicht in dem abſtrakten Begriff Gottes, ſondern in dem lebendigen Zuſammenhang des Gottesgedankens mit der Totalität des pſychiſchen Lebens iſt eine von der Wiſſenſchaft des Kosmos un- abhängige Gewißheit Gottes begründet. Dieſer lebendige und natürliche Zuſammenhang iſt in dem früheren Beweis Anſelms angemeſſener ausgedrückt; hier wird als Grundlage unſeres Be- wußtſeins von verſchiedenen Graden des Guten und Vollkommenen das eines höchſten Gutes, einer unbedingten Vollkommenheit auf- gezeigt. So wird auf Gott als das höchſte Gut geſchloſſen, im Unterſchied von dem Schluß auf ihn als intelligente Urſache 1). 1) 1) Die Vorausſetzung des ontologiſchen Beweiſes, welcher aus dem esse in intellectu für das Weſen, quo majus cogitari non potest, das esse 1) aus ſeiner Beweisführung, weil ſie keine allgemeingültige Faſſung geſtattet, summa theol. p. I quaest. 2 art. 1. Der Fortgang vom Streben nach dem höchſten Gut zu der Befriedigung in Gott wird in der Regel im Mittel- alter nach Auguſtinus (vgl. S. 333) dargeſtellt; an ihn ſchließen ſich die Myſtiker, unter denen ſchon Hugo von St. Viktor den Beweis aus der Welt von der Begründung aus dem religiöſen Erlebniß unterſcheidet.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/417>, abgerufen am 22.11.2024.