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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
bemerkt an Tacitus, welche Veränderung nunmehr das historische
Sehen erfuhr; seine Seelengemälde der Kaiser sind der Ausdruck
der veränderten Interessen der Gesellschaft. Tiefere Beweggründe
traten hinzu; die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit ist der Grund-
zug des alternden Heidenthums. Die Grabinschriften jener Zeit
zeigen, daß die Vorstellung eines kraftlosen Traumlebens in der
Unterwelt nun gänzlich zurücktrat hinter die Erwartung eines
höheren Lebens. "Ihr hochgelobten Seelen der Frommen," heißt
es in einer solchen Grabinschrift, "führet die schuldlose Magnilla
durch die elysischen Haine und Gefilde in eure Wohnungen."
Das Märchen von Amor und Psyche, die beliebt werdende Dar-
stellung der Psyche unter dem Symbol des Schmetterlings sind
Sinnbilder dieser Sehnsucht. Mysteriendienste wiesen die Wege,
auf welchen dies inbrünstige Verlangen das Herz der Gottheit
suchte. Boetius' schönes Werk "über den Trost der Philosophie"
hat den letzten Ausblick in der Zuversicht: wenn die Seele guten
Gewissens, aus dem irdischen Gefängniß erlöst, nun frei dem
Himmel zustrebe, dann werde alles irdische Thun ihr als Nichts
erscheinen, vor dem Genuß der Freuden des Himmels. Das
Herz der christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte ist das
Gefühl von dem unendlichen Werthe der moralischen Person vor
Gott. Die Grundlegung der Lehre von einem Reiche ewiger
individueller Seelensubstanzen
ist nur der wissenschaft-
liche Ausdruck
dieser Veränderung des Seelenlebens.
Nun erhebt sich über den Horizont der metaphysischen Besinnung
die Geisterwelt und ihr Reich. Der literarische Ausdruck dieser
Thatsache liegt in den Stylformen von Meditationen, Soliloquien,
Monologien, und der einsame Verkehr des Geistes mit sich selber
ist nun der tiefe Quellpunkt des wissenschaftlichen Denkens.

Plotin, der reinste und edelste Vertheidiger des mit dem
Christenthum im Todeskampfe ringenden Heidenthums, zeigt in
seinem System die Gemüthsverfassung der neuen, dem ächten
griechischen und römischen Leben ganz fremden Zeit. War doch
Ammonius, sein Lehrer, in dem neuen Seelenleben der christlichen
Gemeinden aufgewachsen. Wenn nun die unsichere Ueberlieferung

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
bemerkt an Tacitus, welche Veränderung nunmehr das hiſtoriſche
Sehen erfuhr; ſeine Seelengemälde der Kaiſer ſind der Ausdruck
der veränderten Intereſſen der Geſellſchaft. Tiefere Beweggründe
traten hinzu; die Sehnſucht nach der Unſterblichkeit iſt der Grund-
zug des alternden Heidenthums. Die Grabinſchriften jener Zeit
zeigen, daß die Vorſtellung eines kraftloſen Traumlebens in der
Unterwelt nun gänzlich zurücktrat hinter die Erwartung eines
höheren Lebens. „Ihr hochgelobten Seelen der Frommen,“ heißt
es in einer ſolchen Grabinſchrift, „führet die ſchuldloſe Magnilla
durch die elyſiſchen Haine und Gefilde in eure Wohnungen.“
Das Märchen von Amor und Pſyche, die beliebt werdende Dar-
ſtellung der Pſyche unter dem Symbol des Schmetterlings ſind
Sinnbilder dieſer Sehnſucht. Myſteriendienſte wieſen die Wege,
auf welchen dies inbrünſtige Verlangen das Herz der Gottheit
ſuchte. Boëtius’ ſchönes Werk „über den Troſt der Philoſophie“
hat den letzten Ausblick in der Zuverſicht: wenn die Seele guten
Gewiſſens, aus dem irdiſchen Gefängniß erlöſt, nun frei dem
Himmel zuſtrebe, dann werde alles irdiſche Thun ihr als Nichts
erſcheinen, vor dem Genuß der Freuden des Himmels. Das
Herz der chriſtlichen Literatur der erſten Jahrhunderte iſt das
Gefühl von dem unendlichen Werthe der moraliſchen Perſon vor
Gott. Die Grundlegung der Lehre von einem Reiche ewiger
individueller Seelenſubſtanzen
iſt nur der wiſſenſchaft-
liche Ausdruck
dieſer Veränderung des Seelenlebens.
Nun erhebt ſich über den Horizont der metaphyſiſchen Beſinnung
die Geiſterwelt und ihr Reich. Der literariſche Ausdruck dieſer
Thatſache liegt in den Stylformen von Meditationen, Soliloquien,
Monologien, und der einſame Verkehr des Geiſtes mit ſich ſelber
iſt nun der tiefe Quellpunkt des wiſſenſchaftlichen Denkens.

Plotin, der reinſte und edelſte Vertheidiger des mit dem
Chriſtenthum im Todeskampfe ringenden Heidenthums, zeigt in
ſeinem Syſtem die Gemüthsverfaſſung der neuen, dem ächten
griechiſchen und römiſchen Leben ganz fremden Zeit. War doch
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[396/0419] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. bemerkt an Tacitus, welche Veränderung nunmehr das hiſtoriſche Sehen erfuhr; ſeine Seelengemälde der Kaiſer ſind der Ausdruck der veränderten Intereſſen der Geſellſchaft. Tiefere Beweggründe traten hinzu; die Sehnſucht nach der Unſterblichkeit iſt der Grund- zug des alternden Heidenthums. Die Grabinſchriften jener Zeit zeigen, daß die Vorſtellung eines kraftloſen Traumlebens in der Unterwelt nun gänzlich zurücktrat hinter die Erwartung eines höheren Lebens. „Ihr hochgelobten Seelen der Frommen,“ heißt es in einer ſolchen Grabinſchrift, „führet die ſchuldloſe Magnilla durch die elyſiſchen Haine und Gefilde in eure Wohnungen.“ Das Märchen von Amor und Pſyche, die beliebt werdende Dar- ſtellung der Pſyche unter dem Symbol des Schmetterlings ſind Sinnbilder dieſer Sehnſucht. Myſteriendienſte wieſen die Wege, auf welchen dies inbrünſtige Verlangen das Herz der Gottheit ſuchte. Boëtius’ ſchönes Werk „über den Troſt der Philoſophie“ hat den letzten Ausblick in der Zuverſicht: wenn die Seele guten Gewiſſens, aus dem irdiſchen Gefängniß erlöſt, nun frei dem Himmel zuſtrebe, dann werde alles irdiſche Thun ihr als Nichts erſcheinen, vor dem Genuß der Freuden des Himmels. Das Herz der chriſtlichen Literatur der erſten Jahrhunderte iſt das Gefühl von dem unendlichen Werthe der moraliſchen Perſon vor Gott. Die Grundlegung der Lehre von einem Reiche ewiger individueller Seelenſubſtanzen iſt nur der wiſſenſchaft- liche Ausdruck dieſer Veränderung des Seelenlebens. Nun erhebt ſich über den Horizont der metaphyſiſchen Beſinnung die Geiſterwelt und ihr Reich. Der literariſche Ausdruck dieſer Thatſache liegt in den Stylformen von Meditationen, Soliloquien, Monologien, und der einſame Verkehr des Geiſtes mit ſich ſelber iſt nun der tiefe Quellpunkt des wiſſenſchaftlichen Denkens. Plotin, der reinſte und edelſte Vertheidiger des mit dem Chriſtenthum im Todeskampfe ringenden Heidenthums, zeigt in ſeinem Syſtem die Gemüthsverfaſſung der neuen, dem ächten griechiſchen und römiſchen Leben ganz fremden Zeit. War doch Ammonius, ſein Lehrer, in dem neuen Seelenleben der chriſtlichen Gemeinden aufgewachſen. Wenn nun die unſichere Ueberlieferung

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/419>, abgerufen am 22.11.2024.