Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
schiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in demselben
Subjekt zusammen bestehen1). Plotin unternimmt allgemein zu
beweisen: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr-
nehmung noch Denken oder Wissen oder das Sittliche und
Schöne vorhanden sein. Soll etwas, so schließt er hierbei, ein
anderes wahrnehmen, so muß es eine Einheit sein; wenn die ein-
tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein
Mannichfaches sind, ja innerhalb des Empfindungskreises Eines
Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in sich schließen, so müssen sie
durch eine mit sich selbst identische Einheit zum Gegen-
stand verbunden
werden; die Sinneseindrücke müssen in einer
untheilbaren Einheit sich begegnen. Er drückt es in einem zu-
treffenden Bilde so aus: die Wahrnehmungen müssen von der
ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Kreises
in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zusammentreffen.
Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein-
ander entstehen; denn Theil A der materiellen und ausgedehnten
Seele würde seine Eindrücke für sich haben, ebenso B und C; dies
wäre also schließlich so, als ob ein Individuum A und neben ihm
ein Individuum B wahrnähme. Sind wir ferner im Stande,
zwei Eindrücke unter einander zu vergleichen, von einander
zu unterscheiden, dann setzt dies voraus, daß sie in einer Ein-
heit aneinandergehalten
werden. In diesem wie in an-
deren mehr untergeordneten Beweisen ist der große Satz von der
Unvergleichbarkeit der Leistung des Bewußtseins mit dem, was
wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde
legen, von Plotin ganz vollständig durchgedacht worden. Dieser Satz
hatte freilich irrthümlicher Weise für ihn eine positive metaphysische
Beweiskraft; aber eine solche ist demselben auch in der ganzen
weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendelssohn, ja
Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen
negativen Werth, gegenüber jeder Art von materialistischer oder
sogenannter monistischer Metaphysik hat2).


1) Aristoteles de anima III, 2 p. 426b 15.
2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 461 ff. Bemerkenswerth auch das parallele

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſchiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in demſelben
Subjekt zuſammen beſtehen1). Plotin unternimmt allgemein zu
beweiſen: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr-
nehmung noch Denken oder Wiſſen oder das Sittliche und
Schöne vorhanden ſein. Soll etwas, ſo ſchließt er hierbei, ein
anderes wahrnehmen, ſo muß es eine Einheit ſein; wenn die ein-
tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein
Mannichfaches ſind, ja innerhalb des Empfindungskreiſes Eines
Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in ſich ſchließen, ſo müſſen ſie
durch eine mit ſich ſelbſt identiſche Einheit zum Gegen-
ſtand verbunden
werden; die Sinneseindrücke müſſen in einer
untheilbaren Einheit ſich begegnen. Er drückt es in einem zu-
treffenden Bilde ſo aus: die Wahrnehmungen müſſen von der
ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Kreiſes
in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zuſammentreffen.
Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein-
ander entſtehen; denn Theil A der materiellen und ausgedehnten
Seele würde ſeine Eindrücke für ſich haben, ebenſo B und C; dies
wäre alſo ſchließlich ſo, als ob ein Individuum A und neben ihm
ein Individuum B wahrnähme. Sind wir ferner im Stande,
zwei Eindrücke unter einander zu vergleichen, von einander
zu unterſcheiden, dann ſetzt dies voraus, daß ſie in einer Ein-
heit aneinandergehalten
werden. In dieſem wie in an-
deren mehr untergeordneten Beweiſen iſt der große Satz von der
Unvergleichbarkeit der Leiſtung des Bewußtſeins mit dem, was
wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde
legen, von Plotin ganz vollſtändig durchgedacht worden. Dieſer Satz
hatte freilich irrthümlicher Weiſe für ihn eine poſitive metaphyſiſche
Beweiskraft; aber eine ſolche iſt demſelben auch in der ganzen
weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendelsſohn, ja
Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen
negativen Werth, gegenüber jeder Art von materialiſtiſcher oder
ſogenannter moniſtiſcher Metaphyſik hat2).


1) Ariſtoteles de anima III, 2 p. 426b 15.
2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 461 ff. Bemerkenswerth auch das parallele
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0421" n="398"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
&#x017F;chiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in dem&#x017F;elben<lb/>
Subjekt zu&#x017F;ammen be&#x017F;tehen<note place="foot" n="1)">Ari&#x017F;toteles <hi rendition="#aq">de anima III, 2 p. 426<hi rendition="#sup">b</hi> 15</hi>.</note>. Plotin unternimmt allgemein zu<lb/>
bewei&#x017F;en: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr-<lb/>
nehmung noch Denken oder Wi&#x017F;&#x017F;en oder das Sittliche und<lb/>
Schöne vorhanden &#x017F;ein. Soll etwas, &#x017F;o &#x017F;chließt er hierbei, ein<lb/>
anderes wahrnehmen, &#x017F;o muß es eine Einheit &#x017F;ein; wenn die ein-<lb/>
tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein<lb/>
Mannichfaches &#x017F;ind, ja innerhalb des Empfindungskrei&#x017F;es Eines<lb/>
Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in &#x017F;ich &#x017F;chließen, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#g">durch</hi> eine <hi rendition="#g">mit &#x017F;ich</hi> &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">identi&#x017F;che Einheit</hi> zum <hi rendition="#g">Gegen-<lb/>
&#x017F;tand verbunden</hi> werden; die Sinneseindrücke mü&#x017F;&#x017F;en in einer<lb/>
untheilbaren Einheit &#x017F;ich begegnen. Er drückt es in einem zu-<lb/>
treffenden Bilde &#x017F;o aus: die Wahrnehmungen mü&#x017F;&#x017F;en von der<lb/>
ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Krei&#x017F;es<lb/>
in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zu&#x017F;ammentreffen.<lb/>
Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein-<lb/>
ander ent&#x017F;tehen; denn Theil <hi rendition="#aq">A</hi> der materiellen und ausgedehnten<lb/>
Seele würde &#x017F;eine Eindrücke für &#x017F;ich haben, eben&#x017F;o <hi rendition="#aq">B</hi> und <hi rendition="#aq">C</hi>; dies<lb/>
wäre al&#x017F;o &#x017F;chließlich &#x017F;o, als ob ein Individuum <hi rendition="#aq">A</hi> und neben ihm<lb/>
ein Individuum <hi rendition="#aq">B</hi> wahrnähme. Sind wir ferner im Stande,<lb/><hi rendition="#g">zwei Eindrücke</hi> unter einander zu <hi rendition="#g">vergleichen</hi>, von einander<lb/>
zu <hi rendition="#g">unter&#x017F;cheiden</hi>, dann &#x017F;etzt dies voraus, daß &#x017F;ie in einer <hi rendition="#g">Ein-<lb/>
heit aneinandergehalten</hi> werden. In die&#x017F;em wie in an-<lb/>
deren mehr untergeordneten Bewei&#x017F;en i&#x017F;t der große Satz von der<lb/>
Unvergleichbarkeit der Lei&#x017F;tung des Bewußt&#x017F;eins mit dem, was<lb/>
wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde<lb/>
legen, von Plotin ganz voll&#x017F;tändig durchgedacht worden. Die&#x017F;er Satz<lb/>
hatte freilich irrthümlicher Wei&#x017F;e für ihn eine po&#x017F;itive metaphy&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Beweiskraft; aber eine &#x017F;olche i&#x017F;t dem&#x017F;elben auch in der ganzen<lb/>
weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendels&#x017F;ohn, ja<lb/>
Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen<lb/><hi rendition="#g">negativen Werth</hi>, gegenüber jeder Art von materiali&#x017F;ti&#x017F;cher oder<lb/>
&#x017F;ogenannter moni&#x017F;ti&#x017F;cher Metaphy&#x017F;ik hat<note xml:id="note-0421" next="#note-0422" place="foot" n="2)">Plotinus <hi rendition="#aq">Enn. IV 1. 7 p</hi>. 461 ff. Bemerkenswerth auch das parallele</note>.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[398/0421] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. ſchiedne Subjekte vertheilt werden und nicht vielmehr in demſelben Subjekt zuſammen beſtehen 1). Plotin unternimmt allgemein zu beweiſen: wäre die Seele materiell, alsdann könnte weder Wahr- nehmung noch Denken oder Wiſſen oder das Sittliche und Schöne vorhanden ſein. Soll etwas, ſo ſchließt er hierbei, ein anderes wahrnehmen, ſo muß es eine Einheit ſein; wenn die ein- tretenden Bilder, vermöge der Mehrheit der Sinnesorgane, ein Mannichfaches ſind, ja innerhalb des Empfindungskreiſes Eines Sinnesorgans ein Mannichfaltiges in ſich ſchließen, ſo müſſen ſie durch eine mit ſich ſelbſt identiſche Einheit zum Gegen- ſtand verbunden werden; die Sinneseindrücke müſſen in einer untheilbaren Einheit ſich begegnen. Er drückt es in einem zu- treffenden Bilde ſo aus: die Wahrnehmungen müſſen von der ganzen Peripherie des Sinneslebens her wie Radien eines Kreiſes in dem untheilbaren Mittelpunkt des Seelenlebens zuſammentreffen. Andern Falles würden innerlich viele Wahrnehmungen neben ein- ander entſtehen; denn Theil A der materiellen und ausgedehnten Seele würde ſeine Eindrücke für ſich haben, ebenſo B und C; dies wäre alſo ſchließlich ſo, als ob ein Individuum A und neben ihm ein Individuum B wahrnähme. Sind wir ferner im Stande, zwei Eindrücke unter einander zu vergleichen, von einander zu unterſcheiden, dann ſetzt dies voraus, daß ſie in einer Ein- heit aneinandergehalten werden. In dieſem wie in an- deren mehr untergeordneten Beweiſen iſt der große Satz von der Unvergleichbarkeit der Leiſtung des Bewußtſeins mit dem, was wir als Vorgang den Veränderungen in der Außenwelt zu Grunde legen, von Plotin ganz vollſtändig durchgedacht worden. Dieſer Satz hatte freilich irrthümlicher Weiſe für ihn eine poſitive metaphyſiſche Beweiskraft; aber eine ſolche iſt demſelben auch in der ganzen weiteren Entwicklung bis auf Leibniz, Wolff, Mendelsſohn, ja Lotze hin beigelegt werden; während er in Wirklichkeit nur einen negativen Werth, gegenüber jeder Art von materialiſtiſcher oder ſogenannter moniſtiſcher Metaphyſik hat 2). 1) Ariſtoteles de anima III, 2 p. 426b 15. 2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 461 ff. Bemerkenswerth auch das parallele

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/421
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/421>, abgerufen am 22.11.2024.