soll, muß durch eine innere Wahlverwandtschaft hierzu vorbe- reitet sein.
Diese veränderte Verfassung der geistigen Bildung, wie sie in der zunehmenden Selbständigkeit der Religion, Wissenschaft und Kunst und der wachsenden Freiheit des Individuums gegenüber dem Verbandsleben der Menschheit erscheint, ist der tiefste, in der psychischen Verfassung des modernen Menschen selber liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphysik ihre bisherige ge- schichtliche Rolle ausgespielt hat. Die christliche Religion, wie Luther und Zwingli sie auf die innere Erfahrung stellten, die Kunst, wie nun Lionardo sie den geheimnißvollen Tiefsinn der Wirklichkeit erfassen lehrte, die Wissenschaft, wie sie Galilei auf die Analysis der Erfahrung verwies, konstituirten das moderne Bewußtsein in der Freiheit seiner Lebensäußerungen.
Metaphysik, als Theologie, war das reale Band gewesen, welches im Mittelalter Religion, Wissenschaft und Kunst, die ver- schiedenen Seiten des geistigen Lebens, zusammengehalten hatte: nun wurde dies Band gesprengt. Das intellektuelle Leben der neuen Völker war so weit herangewachsen und ihr Verstand durch die Scholastik so disciplinirt für die Forschung um der Forschung willen, daß eingeschränktere Aufgaben vermittelst strengerer Methoden gestellt und auch gelöst zu werden begannen. Die Zeit selbständiger Entwicklung der Einzelwissenschaften war gekommen. Die Ergebnisse der positiven Epoche der alten Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch und Galen den Faden positiven Forschens fallen gelassen, konnte er wieder angeknüpft werden. Alterthum und Mittelalter haben in der Wissenschaft die Antwort auf das Räthsel der Welt, in der Wirklichkeit die Verkörperung der höchsten Ideen gesucht; so war die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erscheinungen mit der Zergliederung ihres ursächlichen Zusammenhangs vermischt worden. Indem jetzt die Wissenschaft sich von der Religion loslöste, ohne sie ersetzen zu wollen, trat die kausale Forschung aus dieser falschen Verknüpfung und näherte sich den Bedürfnissen des Lebens. Man war des abstrakten Schließens auf transscendente Objekte, der
Der moderne Menſch und die Metaphyſik.
ſoll, muß durch eine innere Wahlverwandtſchaft hierzu vorbe- reitet ſein.
Dieſe veränderte Verfaſſung der geiſtigen Bildung, wie ſie in der zunehmenden Selbſtändigkeit der Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt und der wachſenden Freiheit des Individuums gegenüber dem Verbandsleben der Menſchheit erſcheint, iſt der tiefſte, in der pſychiſchen Verfaſſung des modernen Menſchen ſelber liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphyſik ihre bisherige ge- ſchichtliche Rolle ausgeſpielt hat. Die chriſtliche Religion, wie Luther und Zwingli ſie auf die innere Erfahrung ſtellten, die Kunſt, wie nun Lionardo ſie den geheimnißvollen Tiefſinn der Wirklichkeit erfaſſen lehrte, die Wiſſenſchaft, wie ſie Galilei auf die Analyſis der Erfahrung verwies, konſtituirten das moderne Bewußtſein in der Freiheit ſeiner Lebensäußerungen.
Metaphyſik, als Theologie, war das reale Band geweſen, welches im Mittelalter Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt, die ver- ſchiedenen Seiten des geiſtigen Lebens, zuſammengehalten hatte: nun wurde dies Band geſprengt. Das intellektuelle Leben der neuen Völker war ſo weit herangewachſen und ihr Verſtand durch die Scholaſtik ſo disciplinirt für die Forſchung um der Forſchung willen, daß eingeſchränktere Aufgaben vermittelſt ſtrengerer Methoden geſtellt und auch gelöſt zu werden begannen. Die Zeit ſelbſtändiger Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften war gekommen. Die Ergebniſſe der poſitiven Epoche der alten Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch und Galen den Faden poſitiven Forſchens fallen gelaſſen, konnte er wieder angeknüpft werden. Alterthum und Mittelalter haben in der Wiſſenſchaft die Antwort auf das Räthſel der Welt, in der Wirklichkeit die Verkörperung der höchſten Ideen geſucht; ſo war die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erſcheinungen mit der Zergliederung ihres urſächlichen Zuſammenhangs vermiſcht worden. Indem jetzt die Wiſſenſchaft ſich von der Religion loslöſte, ohne ſie erſetzen zu wollen, trat die kauſale Forſchung aus dieſer falſchen Verknüpfung und näherte ſich den Bedürfniſſen des Lebens. Man war des abſtrakten Schließens auf transſcendente Objekte, der
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Der moderne Menſch und die Metaphyſik.
ſoll, muß durch eine innere Wahlverwandtſchaft hierzu vorbe-
reitet ſein.
Dieſe veränderte Verfaſſung der geiſtigen Bildung, wie ſie in
der zunehmenden Selbſtändigkeit der Religion, Wiſſenſchaft und
Kunſt und der wachſenden Freiheit des Individuums gegenüber
dem Verbandsleben der Menſchheit erſcheint, iſt der tiefſte, in
der pſychiſchen Verfaſſung des modernen Menſchen ſelber liegende
Grund dafür, daß jetzt die Metaphyſik ihre bisherige ge-
ſchichtliche Rolle ausgeſpielt hat. Die chriſtliche Religion,
wie Luther und Zwingli ſie auf die innere Erfahrung ſtellten, die
Kunſt, wie nun Lionardo ſie den geheimnißvollen Tiefſinn der
Wirklichkeit erfaſſen lehrte, die Wiſſenſchaft, wie ſie Galilei auf
die Analyſis der Erfahrung verwies, konſtituirten das moderne
Bewußtſein in der Freiheit ſeiner Lebensäußerungen.
Metaphyſik, als Theologie, war das reale Band geweſen,
welches im Mittelalter Religion, Wiſſenſchaft und Kunſt, die ver-
ſchiedenen Seiten des geiſtigen Lebens, zuſammengehalten hatte:
nun wurde dies Band geſprengt. Das intellektuelle Leben der
neuen Völker war ſo weit herangewachſen und ihr Verſtand
durch die Scholaſtik ſo disciplinirt für die Forſchung um der
Forſchung willen, daß eingeſchränktere Aufgaben vermittelſt ſtrengerer
Methoden geſtellt und auch gelöſt zu werden begannen. Die Zeit
ſelbſtändiger Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften
war gekommen. Die Ergebniſſe der poſitiven Epoche der alten
Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch
und Galen den Faden poſitiven Forſchens fallen gelaſſen, konnte
er wieder angeknüpft werden. Alterthum und Mittelalter haben
in der Wiſſenſchaft die Antwort auf das Räthſel der Welt, in der
Wirklichkeit die Verkörperung der höchſten Ideen geſucht; ſo war
die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erſcheinungen mit der
Zergliederung ihres urſächlichen Zuſammenhangs vermiſcht worden.
Indem jetzt die Wiſſenſchaft ſich von der Religion loslöſte, ohne
ſie erſetzen zu wollen, trat die kauſale Forſchung aus dieſer falſchen
Verknüpfung und näherte ſich den Bedürfniſſen des Lebens. Man
war des abſtrakten Schließens auf transſcendente Objekte, der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/476>, abgerufen am 29.11.2024.
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