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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Sie war ein lebendiges, wirkendes Denken, wirkend auf die pdi_322.002
Dichtung, die Kritik, das Verständniss und die literarhistorische pdi_322.003
oder philologische Erkenntniss. Und nur sofern philosophisches pdi_322.004
Denken wirkt, hat es ein Recht, zu existiren.

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Die erste Errungenschaft dieser deutschen Aesthetik ist pdi_322.006
ein wichtiger Satz, abstrahirt aus der Entwicklung, welche die pdi_322.007
Poesie in der modernen Zeit durchlaufen hatte und die nun in pdi_322.008
der Epoche Goethes und Schillers deutlich überschaut werden pdi_322.009
konnte. In dem Vorgang von Differenzirung, in welchem die pdi_322.010
einzelnen Systeme der Cultur bei den neueren Völkern seit dem pdi_322.011
Ausgang des Mittelalters sich immer entschiedener trennten, hat pdi_322.012
sich auch die Kunst als eine selbständige Lebensäusserung von pdi_322.013
eigenem Gehalt entwickelt. Und indem nun im 18. Jahrhundert pdi_322.014
in Deutschland die Poesie zur herrschenden Macht wurde, indem pdi_322.015
sie, durch Selbstbesinnung über die in ihr wirkende seelische pdi_322.016
Kraft, ihres genialen Vermögens eine eigene Welt hervorzubringen pdi_322.017
inne wurde, indem man die Verkörperung dieses genialen pdi_322.018
Vermögens in Goethe genoss, entstand die für die Poesie grundlegende pdi_322.019
Erkenntniss: die Poesie ist nicht die Nachahmung einer pdi_322.020
Wirklichkeit, welche ebenso schon vor ihr bestände; sie ist pdi_322.021
nicht eine Einkleidung von Wahrheiten, von einem geistigen pdi_322.022
Gehalt, der gleichsam vor ihr da wäre; das ästhetische Vermögen pdi_322.023
ist eine schöpferische Kraft zur Erzeugung eines die pdi_322.024
Wirklichkeit überschreitenden und in keinem abstracten Denken pdi_322.025
gegebenen Gehaltes, ja einer Art und Weise, die Welt zu betrachten. pdi_322.026
So wurde der Poesie ein selbständiges Vermögen, pdi_322.027
Leben und Welt zu schauen, zuerkannt; sie wurde zu einem pdi_322.028
Organ des Weltverständnisses erhoben und trat neben Wissenschaft pdi_322.029
und Religion. Wahrheiten und Ueberspannungen waren pdi_322.030
in diesem Satze gemischt, und man darf sagen, dass eine künftige pdi_322.031
Poetik grosse Mühe haben wird, Beides zu scheiden.

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Der Erste, welcher die Natur dieser ästhetischen Genialität pdi_322.033
in einer Formel zu entwickeln unternahm, war Schiller. Man sehe pdi_322.034
von der unvollkommenen Begründung durch eine Trieblehre ab: pdi_322.035
für Schiller ist Schönheit lebende, athmende Gestalt. Diese wird pdi_322.036
da hervorgebracht, wo die Anschauung im Bilde das Leben

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/24>, abgerufen am 23.11.2024.