Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_323.001 Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im pdi_323.013 Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit pdi_323.025 pdi_323.001 Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im pdi_323.013 Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit pdi_323.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0025" n="323"/><lb n="pdi_323.001"/> auffasst, oder wo die Gestalt zum Leben beseelt wird. Die <lb n="pdi_323.002"/> Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt. „Ein <lb n="pdi_323.003"/> Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch <lb n="pdi_323.004"/> lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass seine Gestalt <lb n="pdi_323.005"/> Leben und sein Leben Gestalt sei. So lange wir über seine <lb n="pdi_323.006"/> Gestalt bloss denken, ist sie leblos, blosse Abstraction; so lange <lb n="pdi_323.007"/> wir sein Leben bloss fühlen, ist es gestaltlos, blosse Impression. <lb n="pdi_323.008"/> Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein <lb n="pdi_323.009"/> Leben in unsrem Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, <lb n="pdi_323.010"/> und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön bebeurtheilen“ <lb n="pdi_323.011"/> (Schiller ästh. Briefe. Bf. 15).</p> <lb n="pdi_323.012"/> <p> Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im <lb n="pdi_323.013"/> Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so <lb n="pdi_323.014"/> die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung <lb n="pdi_323.015"/> darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, dass also Uebersetzung <lb n="pdi_323.016"/> von Erlebniss in Gestalt und von Gestalt in Erlebniss <lb n="pdi_323.017"/> hier beständig stattfindet, als das Schiller'sche Gesetz bezeichnen <lb n="pdi_323.018"/> und dasselbe später psychologisch genauer zu formuliren und zu <lb n="pdi_323.019"/> begründen suchen. Dem Satze Schillers sind die Aeusserungen <lb n="pdi_323.020"/> Herders in der Kalligone verwandt, nach welchen Schönheit <lb n="pdi_323.021"/> gewahrt wird, wenn die im Gefühl als Wohlsein empfundene <lb n="pdi_323.022"/> Vollkommenheit der Dinge wiederklingt in unsrem eignen <lb n="pdi_323.023"/> Wohlsein.</p> <lb n="pdi_323.024"/> <p> Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit <lb n="pdi_323.025"/> und Gestalt ist dann bekanntlich zum Vehikel der <lb n="pdi_323.026"/> Weltansicht, ja des Philosophirens geworden. Die ästhetische <lb n="pdi_323.027"/> Weltansicht entstand, angeregt durch die Besinnung auf die poetischen <lb n="pdi_323.028"/> Vorgänge, insbesondere auf das in Goethe gewaltig Wirkende, <lb n="pdi_323.029"/> vermittelt durch Schillers Energie der Reflexion, und durch <lb n="pdi_323.030"/> Schelling in Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Speculation <lb n="pdi_323.031"/> gebracht. Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältniss <lb n="pdi_323.032"/> von Innen und Aussen zu lebendiger Energie und verbreitet <lb n="pdi_323.033"/> es auch über die dem Denken todte Natur. Dies erlebte <lb n="pdi_323.034"/> Verhältniss wird nun im Identitätssystem zur Formel für den Grund <lb n="pdi_323.035"/> und Zusammenhang der Welt; so konnte dann natürlich diese <lb n="pdi_323.036"/> Formel rückwärts wieder als objectives Princip für die Ableitung </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [323/0025]
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auffasst, oder wo die Gestalt zum Leben beseelt wird. Die pdi_323.002
Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt. „Ein pdi_323.003
Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch pdi_323.004
lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass seine Gestalt pdi_323.005
Leben und sein Leben Gestalt sei. So lange wir über seine pdi_323.006
Gestalt bloss denken, ist sie leblos, blosse Abstraction; so lange pdi_323.007
wir sein Leben bloss fühlen, ist es gestaltlos, blosse Impression. pdi_323.008
Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein pdi_323.009
Leben in unsrem Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, pdi_323.010
und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön bebeurtheilen“ pdi_323.011
(Schiller ästh. Briefe. Bf. 15).
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Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im pdi_323.013
Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so pdi_323.014
die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung pdi_323.015
darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, dass also Uebersetzung pdi_323.016
von Erlebniss in Gestalt und von Gestalt in Erlebniss pdi_323.017
hier beständig stattfindet, als das Schiller'sche Gesetz bezeichnen pdi_323.018
und dasselbe später psychologisch genauer zu formuliren und zu pdi_323.019
begründen suchen. Dem Satze Schillers sind die Aeusserungen pdi_323.020
Herders in der Kalligone verwandt, nach welchen Schönheit pdi_323.021
gewahrt wird, wenn die im Gefühl als Wohlsein empfundene pdi_323.022
Vollkommenheit der Dinge wiederklingt in unsrem eignen pdi_323.023
Wohlsein.
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Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit pdi_323.025
und Gestalt ist dann bekanntlich zum Vehikel der pdi_323.026
Weltansicht, ja des Philosophirens geworden. Die ästhetische pdi_323.027
Weltansicht entstand, angeregt durch die Besinnung auf die poetischen pdi_323.028
Vorgänge, insbesondere auf das in Goethe gewaltig Wirkende, pdi_323.029
vermittelt durch Schillers Energie der Reflexion, und durch pdi_323.030
Schelling in Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Speculation pdi_323.031
gebracht. Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältniss pdi_323.032
von Innen und Aussen zu lebendiger Energie und verbreitet pdi_323.033
es auch über die dem Denken todte Natur. Dies erlebte pdi_323.034
Verhältniss wird nun im Identitätssystem zur Formel für den Grund pdi_323.035
und Zusammenhang der Welt; so konnte dann natürlich diese pdi_323.036
Formel rückwärts wieder als objectives Princip für die Ableitung
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