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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen
wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter
geschritten bist, die sich weiter nicht wundern,
daß der "nachdenkende Herr" ihr Hutabnehmen
nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung
"andächtig" ist, das heißt den Rosenkranz aus
dem Gedächtnisse hersagt. -- Diese Ruhe und
Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver-
breiten sich auch über alle Lebensverhältnisse. --
Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver-
gessen, und alten Leuten treten noch Thränen in
die Augen, wenn sie von ihren verstorbenen Eltern
reden. An den Eheschlüssen hat frühere Neigung
nur selten Theil; Verwandte und achtbare Freunde
empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort
des Geachtetsten giebt in der Regel den Ausschlag, --
so kömmt es, daß manches Ehepaar sich vor der
Copulation kaum einmal gesehen hat, und unter
der französischen Regierung kam nicht selten der
lächerliche Fall vor, daß Sponsen, die meilenweit
hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen
Scheine bei der Behörde zu lösen, weder Vor- noch
Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die sie in
der nächsten Woche zu heirathen gedachten, und sich
höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd
oder Nichte irgend eines angesehenen Gemeindegliedes
nicht hinreichend gefunden wurde. -- Daß unter

von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen
wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter
geſchritten biſt, die ſich weiter nicht wundern,
daß der „nachdenkende Herr“ ihr Hutabnehmen
nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung
„andächtig“ iſt, das heißt den Roſenkranz aus
dem Gedächtniſſe herſagt. — Dieſe Ruhe und
Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver-
breiten ſich auch über alle Lebensverhältniſſe. —
Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver-
geſſen, und alten Leuten treten noch Thränen in
die Augen, wenn ſie von ihren verſtorbenen Eltern
reden. An den Eheſchlüſſen hat frühere Neigung
nur ſelten Theil; Verwandte und achtbare Freunde
empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort
des Geachtetſten giebt in der Regel den Ausſchlag, —
ſo kömmt es, daß manches Ehepaar ſich vor der
Copulation kaum einmal geſehen hat, und unter
der franzöſiſchen Regierung kam nicht ſelten der
lächerliche Fall vor, daß Sponſen, die meilenweit
hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen
Scheine bei der Behörde zu löſen, weder Vor- noch
Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die ſie in
der nächſten Woche zu heirathen gedachten, und ſich
höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd
oder Nichte irgend eines angeſehenen Gemeindegliedes
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[278/0294] von einem halbbeladenen Erndtewagen geworfen wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter geſchritten biſt, die ſich weiter nicht wundern, daß der „nachdenkende Herr“ ihr Hutabnehmen nicht beachtet hat, da er nach ihrer Meinung „andächtig“ iſt, das heißt den Roſenkranz aus dem Gedächtniſſe herſagt. — Dieſe Ruhe und Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, ver- breiten ſich auch über alle Lebensverhältniſſe. — Die Todten werden mäßig betrauert, aber nie ver- geſſen, und alten Leuten treten noch Thränen in die Augen, wenn ſie von ihren verſtorbenen Eltern reden. An den Eheſchlüſſen hat frühere Neigung nur ſelten Theil; Verwandte und achtbare Freunde empfehlen ihre Lieblinge einander und das Fürwort des Geachtetſten giebt in der Regel den Ausſchlag, — ſo kömmt es, daß manches Ehepaar ſich vor der Copulation kaum einmal geſehen hat, und unter der franzöſiſchen Regierung kam nicht ſelten der lächerliche Fall vor, daß Sponſen, die meilenweit hergetrabt waren, um für ihre Braut die nöthigen Scheine bei der Behörde zu löſen, weder Vor- noch Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die ſie in der nächſten Woche zu heirathen gedachten, und ſich höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd oder Nichte irgend eines angeſehenen Gemeindegliedes nicht hinreichend gefunden wurde. — Daß unter

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/294>, abgerufen am 24.06.2024.