hen das Gebiet des Aegäischen Meeres vom Hellespont bis zum Isthmus, von hier bis zum Tänarischen Vorgebirge; selbst durch das Meer hin bezeichnen Cythere, Kreta, Rhodus diese Umschließung, die auf der Karischen Küste in mächtigeren Gebirgsformen hervor- tritt, und in reichen Thälern und Berghängen zum Meere hinab- sinkend bis zum schneereichen Ida und dem Hellespont hinzieht. Jahrhunderte hat sich das Hellenische Leben in diesem Kreise bewegt; und jene Richtung gen Osten, die dem Geist des Volkes von dem Boden der Europäischen Heimath mitgegeben war, schien sich in je- ner zweiten Heimath, die er auf der Küste Asiens fand, erfüllt und bewährt zu haben.
Und doch blieb in dem ahnenden Gefühl des Volkes das Mor- genland, die Völker des Ostens der stete Gegensatz des Griechen- thumes; in Sagen und Gesängen gestaltete sich die eigene Zukunft vor; ein goldener Hort oder ein schönes Weib wurden der unmit- telbare Ausdruck einer tieferen Sehnsucht. Aus dem Morgenlande entführt der Olympier Zeus das Sidonische Fürstenkind und nennt Europa mit ihrem Namen; nach dem Morgenlande flüchtet Jo, um dort den Hellenischen Gott zu umarmen, den ihr in der Heimath die Göttinn von Argos versagt. Auf dem Widder mit goldenem Vließ will Hella gegen Osten flüchten, um dort Frieden zu finden; aber sie versinkt in das Meer, das ihre Heimath vom Lande des Friedens trennt. Die Argonauten ziehen aus, das goldne Vließ heimzuholen aus dem Walde von Kolchis; das ist der erste Kriegs- zug gegen das Morgenland; mit den Helden zurück kommt Medea, die arge Zauberin, die Haß und Blutschuld in die Königshäuser von Hellas bringt, bis sie, verstoßen und misehrt von dem Heros Athens, zurückflüchtet in die Medische Heimath.
Dem Argonautenzuge folgt ein zweiter Heldenkampf, der hei- mathliche Krieg gegen Theben, das traurige Vorbild des Hasses und der brüderlichen Kämpfe, die Griechenland lange zerrütten sollten. In verhängnißvoller Verblendung hat Laios gegen das Orakel des Gottes einen Sohn gezeugt, hat Oedipus sein Vaterland miskannt und kehrt, die Fremde suchend, zur Heimath zurück, erschlägt den Vater, zeugt mit seiner Mutter, und herrscht in der Stadt, der bes- ser das Räthsel ihres Untergangs nie gelöst wäre. Und als er end- lich seiner Schuld inne wird, so blendet er in frecher Wildheit sein
hen das Gebiet des Aegäiſchen Meeres vom Hellespont bis zum Iſthmus, von hier bis zum Tänariſchen Vorgebirge; ſelbſt durch das Meer hin bezeichnen Cythere, Kreta, Rhodus dieſe Umſchließung, die auf der Kariſchen Küſte in mächtigeren Gebirgsformen hervor- tritt, und in reichen Thälern und Berghängen zum Meere hinab- ſinkend bis zum ſchneereichen Ida und dem Hellespont hinzieht. Jahrhunderte hat ſich das Helleniſche Leben in dieſem Kreiſe bewegt; und jene Richtung gen Oſten, die dem Geiſt des Volkes von dem Boden der Europäiſchen Heimath mitgegeben war, ſchien ſich in je- ner zweiten Heimath, die er auf der Küſte Aſiens fand, erfüllt und bewährt zu haben.
Und doch blieb in dem ahnenden Gefühl des Volkes das Mor- genland, die Völker des Oſtens der ſtete Gegenſatz des Griechen- thumes; in Sagen und Geſängen geſtaltete ſich die eigene Zukunft vor; ein goldener Hort oder ein ſchönes Weib wurden der unmit- telbare Ausdruck einer tieferen Sehnſucht. Aus dem Morgenlande entführt der Olympier Zeus das Sidoniſche Fürſtenkind und nennt Europa mit ihrem Namen; nach dem Morgenlande flüchtet Jo, um dort den Helleniſchen Gott zu umarmen, den ihr in der Heimath die Göttinn von Argos verſagt. Auf dem Widder mit goldenem Vließ will Hella gegen Oſten flüchten, um dort Frieden zu finden; aber ſie verſinkt in das Meer, das ihre Heimath vom Lande des Friedens trennt. Die Argonauten ziehen aus, das goldne Vließ heimzuholen aus dem Walde von Kolchis; das iſt der erſte Kriegs- zug gegen das Morgenland; mit den Helden zurück kommt Medea, die arge Zauberin, die Haß und Blutſchuld in die Königshäuſer von Hellas bringt, bis ſie, verſtoßen und misehrt von dem Heros Athens, zurückflüchtet in die Mediſche Heimath.
Dem Argonautenzuge folgt ein zweiter Heldenkampf, der hei- mathliche Krieg gegen Theben, das traurige Vorbild des Haſſes und der brüderlichen Kämpfe, die Griechenland lange zerrütten ſollten. In verhängnißvoller Verblendung hat Laios gegen das Orakel des Gottes einen Sohn gezeugt, hat Oedipus ſein Vaterland miskannt und kehrt, die Fremde ſuchend, zur Heimath zurück, erſchlägt den Vater, zeugt mit ſeiner Mutter, und herrſcht in der Stadt, der beſ- ſer das Räthſel ihres Untergangs nie gelöſt wäre. Und als er end- lich ſeiner Schuld inne wird, ſo blendet er in frecher Wildheit ſein
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hen das Gebiet des Aegäiſchen Meeres vom Hellespont bis zum
Iſthmus, von hier bis zum Tänariſchen Vorgebirge; ſelbſt durch das
Meer hin bezeichnen Cythere, Kreta, Rhodus dieſe Umſchließung,
die auf der Kariſchen Küſte in mächtigeren Gebirgsformen hervor-
tritt, und in reichen Thälern und Berghängen zum Meere hinab-
ſinkend bis zum ſchneereichen Ida und dem Hellespont hinzieht.
Jahrhunderte hat ſich das Helleniſche Leben in dieſem Kreiſe bewegt;
und jene Richtung gen Oſten, die dem Geiſt des Volkes von dem
Boden der Europäiſchen Heimath mitgegeben war, ſchien ſich in je-
ner zweiten Heimath, die er auf der Küſte Aſiens fand, erfüllt und
bewährt zu haben.
Und doch blieb in dem ahnenden Gefühl des Volkes das Mor-
genland, die Völker des Oſtens der ſtete Gegenſatz des Griechen-
thumes; in Sagen und Geſängen geſtaltete ſich die eigene Zukunft
vor; ein goldener Hort oder ein ſchönes Weib wurden der unmit-
telbare Ausdruck einer tieferen Sehnſucht. Aus dem Morgenlande
entführt der Olympier Zeus das Sidoniſche Fürſtenkind und nennt
Europa mit ihrem Namen; nach dem Morgenlande flüchtet Jo, um
dort den Helleniſchen Gott zu umarmen, den ihr in der Heimath
die Göttinn von Argos verſagt. Auf dem Widder mit goldenem
Vließ will Hella gegen Oſten flüchten, um dort Frieden zu finden;
aber ſie verſinkt in das Meer, das ihre Heimath vom Lande des
Friedens trennt. Die Argonauten ziehen aus, das goldne Vließ
heimzuholen aus dem Walde von Kolchis; das iſt der erſte Kriegs-
zug gegen das Morgenland; mit den Helden zurück kommt Medea,
die arge Zauberin, die Haß und Blutſchuld in die Königshäuſer von
Hellas bringt, bis ſie, verſtoßen und misehrt von dem Heros Athens,
zurückflüchtet in die Mediſche Heimath.
Dem Argonautenzuge folgt ein zweiter Heldenkampf, der hei-
mathliche Krieg gegen Theben, das traurige Vorbild des Haſſes und
der brüderlichen Kämpfe, die Griechenland lange zerrütten ſollten.
In verhängnißvoller Verblendung hat Laios gegen das Orakel des
Gottes einen Sohn gezeugt, hat Oedipus ſein Vaterland miskannt
und kehrt, die Fremde ſuchend, zur Heimath zurück, erſchlägt den
Vater, zeugt mit ſeiner Mutter, und herrſcht in der Stadt, der beſ-
ſer das Räthſel ihres Untergangs nie gelöſt wäre. Und als er end-
lich ſeiner Schuld inne wird, ſo blendet er in frecher Wildheit ſein
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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/19>, abgerufen am 21.11.2024.
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