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Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885.

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rential- und Variationsrechnung zu derjenigen ohne diese mäch-
tigen Hülfsmittel.

Merkwürdigerweise sind die zwei Wissenschaften, von denen
die eine formell und die andere materiell am weitesten vorzu-
dringen vermocht haben, auch die beiden einzigen mit eignen
originalen Zeichensprachen. Die Mathematik hat sich in der
Analysis eine besondere Formelsprache geschaffen, und die Chemie
hat je länger desto besser gelernt, den Kern ihres Wissens immer
bestimmter in Formeln darzulegen, die nicht blos den Inhalt,
sondern auch die Art der Zusammensetzung der verschiedenen
Stoffgebilde angeben. Man beachte daher diesen aus den That-
sachen selbst sich ergebenden Fingerzeig und pflege vor allen
Dingen die beiden vollkommensten Ansatzpunkte des Erkennens,
nämlich an dem einen Ende das analytische Rechnen und an
dem andern die rationelle chemische Construction der mannich-
faltigen Stoffe und Körper. Ersteres setzt in den Stand, Massen
und Kräfte des Universums in ihren gegenseitigen Beziehungen
zu ergründen; letztere führt dazu, vermittelst des uns Nahe-
liegenden in das Wesen aller Materie und aller Vorgänge am
innerlichsten und tiefsten einzudringen, ja mit dem Gewinn an
theoretischer Erkenntniss und Geistesfreiheit auch das unmittel-
barste praktische Wirken zu verbinden.

Bildung zur Freiheit und zum Wirken, - das ist der ein-
heitliche, aber doch doppelseitige Gesichtspunkt, der bei allem
echten Studium festgehalten werden muss. Bei der Bildung zur
Geistesfreiheit ist das Wissen an sich selbst die Hauptsache; bei
der Bildung zum Wirken wird auch noch die Kunstfertigkeit in
der Bethätigung des Wissens von entscheidender Bedeutung. Zur
Ausübung eines bestimmten Berufs gehört mehr als blosse Ein-
lassung mit den wissenschaftlichen Bildern der Dinge; man muss
sich unmittelbar mit Dingen selbst vertraut machen, und es wäre
beispielsweise für den Arzt anatomische Kenntniss ungenügend,
wenn sie nicht zugleich mit der eingeübten Fähigkeit verbunden
wäre, die Verhältnisse am wirklichen Körper im einzelnen Fall
sofort zu beurtheilen, ja, was noch mehr erfordert, in diese Ver-
hältnisse chirurgisch einzugreifen. Dagegen kann der allgemeine
wissenschaftliche Lehrerberuf sich fast ausschliesslich auf das
Wissen an sich selbst stützen und er bedarf nur einer einzigen
formellen Kunst, nämlich derjenigen des geschickten Lehrens
selbst und des zugehörigen Einübens. Unser leitender Grundsatz,

rential- und Variationsrechnung zu derjenigen ohne diese mäch-
tigen Hülfsmittel.

Merkwürdigerweise sind die zwei Wissenschaften, von denen
die eine formell und die andere materiell am weitesten vorzu-
dringen vermocht haben, auch die beiden einzigen mit eignen
originalen Zeichensprachen. Die Mathematik hat sich in der
Analysis eine besondere Formelsprache geschaffen, und die Chemie
hat je länger desto besser gelernt, den Kern ihres Wissens immer
bestimmter in Formeln darzulegen, die nicht blos den Inhalt,
sondern auch die Art der Zusammensetzung der verschiedenen
Stoffgebilde angeben. Man beachte daher diesen aus den That-
sachen selbst sich ergebenden Fingerzeig und pflege vor allen
Dingen die beiden vollkommensten Ansatzpunkte des Erkennens,
nämlich an dem einen Ende das analytische Rechnen und an
dem andern die rationelle chemische Construction der mannich-
faltigen Stoffe und Körper. Ersteres setzt in den Stand, Massen
und Kräfte des Universums in ihren gegenseitigen Beziehungen
zu ergründen; letztere führt dazu, vermittelst des uns Nahe-
liegenden in das Wesen aller Materie und aller Vorgänge am
innerlichsten und tiefsten einzudringen, ja mit dem Gewinn an
theoretischer Erkenntniss und Geistesfreiheit auch das unmittel-
barste praktische Wirken zu verbinden.

Bildung zur Freiheit und zum Wirken, – das ist der ein-
heitliche, aber doch doppelseitige Gesichtspunkt, der bei allem
echten Studium festgehalten werden muss. Bei der Bildung zur
Geistesfreiheit ist das Wissen an sich selbst die Hauptsache; bei
der Bildung zum Wirken wird auch noch die Kunstfertigkeit in
der Bethätigung des Wissens von entscheidender Bedeutung. Zur
Ausübung eines bestimmten Berufs gehört mehr als blosse Ein-
lassung mit den wissenschaftlichen Bildern der Dinge; man muss
sich unmittelbar mit Dingen selbst vertraut machen, und es wäre
beispielsweise für den Arzt anatomische Kenntniss ungenügend,
wenn sie nicht zugleich mit der eingeübten Fähigkeit verbunden
wäre, die Verhältnisse am wirklichen Körper im einzelnen Fall
sofort zu beurtheilen, ja, was noch mehr erfordert, in diese Ver-
hältnisse chirurgisch einzugreifen. Dagegen kann der allgemeine
wissenschaftliche Lehrerberuf sich fast ausschliesslich auf das
Wissen an sich selbst stützen und er bedarf nur einer einzigen
formellen Kunst, nämlich derjenigen des geschickten Lehrens
selbst und des zugehörigen Einübens. Unser leitender Grundsatz,

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[97/0106] rential- und Variationsrechnung zu derjenigen ohne diese mäch- tigen Hülfsmittel. Merkwürdigerweise sind die zwei Wissenschaften, von denen die eine formell und die andere materiell am weitesten vorzu- dringen vermocht haben, auch die beiden einzigen mit eignen originalen Zeichensprachen. Die Mathematik hat sich in der Analysis eine besondere Formelsprache geschaffen, und die Chemie hat je länger desto besser gelernt, den Kern ihres Wissens immer bestimmter in Formeln darzulegen, die nicht blos den Inhalt, sondern auch die Art der Zusammensetzung der verschiedenen Stoffgebilde angeben. Man beachte daher diesen aus den That- sachen selbst sich ergebenden Fingerzeig und pflege vor allen Dingen die beiden vollkommensten Ansatzpunkte des Erkennens, nämlich an dem einen Ende das analytische Rechnen und an dem andern die rationelle chemische Construction der mannich- faltigen Stoffe und Körper. Ersteres setzt in den Stand, Massen und Kräfte des Universums in ihren gegenseitigen Beziehungen zu ergründen; letztere führt dazu, vermittelst des uns Nahe- liegenden in das Wesen aller Materie und aller Vorgänge am innerlichsten und tiefsten einzudringen, ja mit dem Gewinn an theoretischer Erkenntniss und Geistesfreiheit auch das unmittel- barste praktische Wirken zu verbinden. Bildung zur Freiheit und zum Wirken, – das ist der ein- heitliche, aber doch doppelseitige Gesichtspunkt, der bei allem echten Studium festgehalten werden muss. Bei der Bildung zur Geistesfreiheit ist das Wissen an sich selbst die Hauptsache; bei der Bildung zum Wirken wird auch noch die Kunstfertigkeit in der Bethätigung des Wissens von entscheidender Bedeutung. Zur Ausübung eines bestimmten Berufs gehört mehr als blosse Ein- lassung mit den wissenschaftlichen Bildern der Dinge; man muss sich unmittelbar mit Dingen selbst vertraut machen, und es wäre beispielsweise für den Arzt anatomische Kenntniss ungenügend, wenn sie nicht zugleich mit der eingeübten Fähigkeit verbunden wäre, die Verhältnisse am wirklichen Körper im einzelnen Fall sofort zu beurtheilen, ja, was noch mehr erfordert, in diese Ver- hältnisse chirurgisch einzugreifen. Dagegen kann der allgemeine wissenschaftliche Lehrerberuf sich fast ausschliesslich auf das Wissen an sich selbst stützen und er bedarf nur einer einzigen formellen Kunst, nämlich derjenigen des geschickten Lehrens selbst und des zugehörigen Einübens. Unser leitender Grundsatz,

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Zitationshilfe: Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/106>, abgerufen am 29.04.2024.