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Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885.

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Was zur Zeit humanistischer Classicitätsschwärmerei, also in einem
Zustande, welcher sich zu dem heutigen Verfall wie Jugendleben
zu einem Leichnam verhielt, nicht den Ausschlag zu geben ver-
mocht hat, sollte jetzt an erster Stelle maassgebend werden?
Selbst wenn wir heute mit unserer wirklichen Wissenschaft da
ständen, wo wir vor vier Jahrhunderten waren, also bei einer
ersten Initiative, so würde der Werth des Griechischen doch nicht
dazu führen können, es zur Schulungssprache zu machen. Wie
die Dinge aber gegenwärtig liegen und nach Beseitigung aller
jener Illusionen der Classicitätsromantik möchte die griechische
Belletristik und Geschichtsschreibung denn doch nicht verlockend
genug sein, um moderne Generationen, etwa der zerfahrenen Possen
des Aristophanes wegen, zu nöthigen, sich Jahrzehnte des Lebens
durch griechische Sprachexercitien aushöhlen zu lassen! Das
Beste bei den Griechen war die plastische Kunst, und ihre Bild-
säulen reden glücklicherweise kein Wort Griechisch. Die Wissen-
schaft aber war bei den Griechen in der Kindheit und die Philo-
sophie fast durchgängig weniger als das, nämlich, was sie, ab-
gesehen von der sachlichen Forschung, auch noch heute so
ziemlich überall ist, ein selbstgefälliges, sachlichen Ernstes er-
mangelndes Vorspiel mit allerlei ersten Elementarbegriffen, aber
überdies in einem dialektisch sehr schülerhaften Genre. Wenn
man also die griechische Schöngeisterei nicht überschätzt und die
Bedürfnisse der modernen Denk- und Gefühlsweise nicht auf die
Dauer mit Füssen treten will, so wird man auch die griechische
Romantik fahren lassen und den modernen Völkern nicht mehr
etwas so Entfremdetes und, realistisch besehen, einer edleren
Menschlichkeit oft so Fernstehendes, stets aber götterspielerisch
und abergläubisch Rückständiges aufdringen können. Für die
richtige Würdigung und Stellung aller Belletristik, einschliesslich
der sprachlich mumisirten und sachlich uns in vielen Elementen
ganz unsympathischen des Alterthums, wird die eigentliche
Wissenschaft schon sorgen.

Gesetzt aber auch, die weibliche Jugend würde unter gymna-
sial altsprachliche Zucht genommen, so würde sie selbst für den
eingebildeten Zweck davon keine Frucht haben; denn mit dem
Zeugniss der Reife ist der heutige Abiturient in griechischer
Lectüre doch noch regelmässig ein derartiger Stümper, dass an
ein geläufiges, sachlich ausgiebiges Aufnehmen alter Literatur-
werke nicht zu denken ist. Bleibt doch noch sogar der studirte

Was zur Zeit humanistischer Classicitätsschwärmerei, also in einem
Zustande, welcher sich zu dem heutigen Verfall wie Jugendleben
zu einem Leichnam verhielt, nicht den Ausschlag zu geben ver-
mocht hat, sollte jetzt an erster Stelle maassgebend werden?
Selbst wenn wir heute mit unserer wirklichen Wissenschaft da
ständen, wo wir vor vier Jahrhunderten waren, also bei einer
ersten Initiative, so würde der Werth des Griechischen doch nicht
dazu führen können, es zur Schulungssprache zu machen. Wie
die Dinge aber gegenwärtig liegen und nach Beseitigung aller
jener Illusionen der Classicitätsromantik möchte die griechische
Belletristik und Geschichtsschreibung denn doch nicht verlockend
genug sein, um moderne Generationen, etwa der zerfahrenen Possen
des Aristophanes wegen, zu nöthigen, sich Jahrzehnte des Lebens
durch griechische Sprachexercitien aushöhlen zu lassen! Das
Beste bei den Griechen war die plastische Kunst, und ihre Bild-
säulen reden glücklicherweise kein Wort Griechisch. Die Wissen-
schaft aber war bei den Griechen in der Kindheit und die Philo-
sophie fast durchgängig weniger als das, nämlich, was sie, ab-
gesehen von der sachlichen Forschung, auch noch heute so
ziemlich überall ist, ein selbstgefälliges, sachlichen Ernstes er-
mangelndes Vorspiel mit allerlei ersten Elementarbegriffen, aber
überdies in einem dialektisch sehr schülerhaften Genre. Wenn
man also die griechische Schöngeisterei nicht überschätzt und die
Bedürfnisse der modernen Denk- und Gefühlsweise nicht auf die
Dauer mit Füssen treten will, so wird man auch die griechische
Romantik fahren lassen und den modernen Völkern nicht mehr
etwas so Entfremdetes und, realistisch besehen, einer edleren
Menschlichkeit oft so Fernstehendes, stets aber götterspielerisch
und abergläubisch Rückständiges aufdringen können. Für die
richtige Würdigung und Stellung aller Belletristik, einschliesslich
der sprachlich mumisirten und sachlich uns in vielen Elementen
ganz unsympathischen des Alterthums, wird die eigentliche
Wissenschaft schon sorgen.

Gesetzt aber auch, die weibliche Jugend würde unter gymna-
sial altsprachliche Zucht genommen, so würde sie selbst für den
eingebildeten Zweck davon keine Frucht haben; denn mit dem
Zeugniss der Reife ist der heutige Abiturient in griechischer
Lectüre doch noch regelmässig ein derartiger Stümper, dass an
ein geläufiges, sachlich ausgiebiges Aufnehmen alter Literatur-
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[49/0058] Was zur Zeit humanistischer Classicitätsschwärmerei, also in einem Zustande, welcher sich zu dem heutigen Verfall wie Jugendleben zu einem Leichnam verhielt, nicht den Ausschlag zu geben ver- mocht hat, sollte jetzt an erster Stelle maassgebend werden? Selbst wenn wir heute mit unserer wirklichen Wissenschaft da ständen, wo wir vor vier Jahrhunderten waren, also bei einer ersten Initiative, so würde der Werth des Griechischen doch nicht dazu führen können, es zur Schulungssprache zu machen. Wie die Dinge aber gegenwärtig liegen und nach Beseitigung aller jener Illusionen der Classicitätsromantik möchte die griechische Belletristik und Geschichtsschreibung denn doch nicht verlockend genug sein, um moderne Generationen, etwa der zerfahrenen Possen des Aristophanes wegen, zu nöthigen, sich Jahrzehnte des Lebens durch griechische Sprachexercitien aushöhlen zu lassen! Das Beste bei den Griechen war die plastische Kunst, und ihre Bild- säulen reden glücklicherweise kein Wort Griechisch. Die Wissen- schaft aber war bei den Griechen in der Kindheit und die Philo- sophie fast durchgängig weniger als das, nämlich, was sie, ab- gesehen von der sachlichen Forschung, auch noch heute so ziemlich überall ist, ein selbstgefälliges, sachlichen Ernstes er- mangelndes Vorspiel mit allerlei ersten Elementarbegriffen, aber überdies in einem dialektisch sehr schülerhaften Genre. Wenn man also die griechische Schöngeisterei nicht überschätzt und die Bedürfnisse der modernen Denk- und Gefühlsweise nicht auf die Dauer mit Füssen treten will, so wird man auch die griechische Romantik fahren lassen und den modernen Völkern nicht mehr etwas so Entfremdetes und, realistisch besehen, einer edleren Menschlichkeit oft so Fernstehendes, stets aber götterspielerisch und abergläubisch Rückständiges aufdringen können. Für die richtige Würdigung und Stellung aller Belletristik, einschliesslich der sprachlich mumisirten und sachlich uns in vielen Elementen ganz unsympathischen des Alterthums, wird die eigentliche Wissenschaft schon sorgen. Gesetzt aber auch, die weibliche Jugend würde unter gymna- sial altsprachliche Zucht genommen, so würde sie selbst für den eingebildeten Zweck davon keine Frucht haben; denn mit dem Zeugniss der Reife ist der heutige Abiturient in griechischer Lectüre doch noch regelmässig ein derartiger Stümper, dass an ein geläufiges, sachlich ausgiebiges Aufnehmen alter Literatur- werke nicht zu denken ist. Bleibt doch noch sogar der studirte

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Zitationshilfe: Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/58>, abgerufen am 29.04.2024.