Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn er¬
scheint. Und als ob alles nur dann existirte, wenn es
sich mathematisch beweisen läßt. Es wäre doch thö¬
richt, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens
glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch
beweisen kann! Ihre Mitgift kann sie ihm mathema¬
tisch beweisen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch
die Mathematiker nicht die Metamorphose der Pflanze
erfunden! Ich habe dieses ohne die Mathematik voll¬
bracht und die Mathematiker haben es müssen gelten
lassen. Um die Phänomene der Farbenlehre zu begreifen
gehört weiter nichts als ein reines Anschauen und ein
gesunder Kopf; allein beydes ist freilich seltener als
man glauben sollte."

Wie stehen denn die jetzigen Franzosen und Eng¬
länder zur Farbenlehre? fragte ich.

"Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre
Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Engländern
ist es gut, daß sie alles practisch machen; aber sie sind
Pedanten. Die Franzosen sind gute Köpfe, aber es soll
bey ihnen alles positiv seyn, und wenn es nicht so ist,
so machen sie es so. Doch sie sind in der Farbenlehre
auf gutem Wege und Einer ihrer Besten kommt nahe
heran. Er sagt: die Farbe sey den Dingen angeschaf¬
fen. Denn wie es in der Natur ein Säurendes gebe,
so gebe es auch ein Färbendes. Damit sind nun freylich
die Phänomene nicht erklärt; allein er spielt doch den

und wo die edle Wiſſenſchaft ſogleich als Unſinn er¬
ſcheint. Und als ob alles nur dann exiſtirte, wenn es
ſich mathematiſch beweiſen laͤßt. Es waͤre doch thoͤ¬
richt, wenn jemand nicht an die Liebe ſeines Maͤdchens
glauben wollte, weil ſie ihm ſolche nicht mathematiſch
beweiſen kann! Ihre Mitgift kann ſie ihm mathema¬
tiſch beweiſen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch
die Mathematiker nicht die Metamorphoſe der Pflanze
erfunden! Ich habe dieſes ohne die Mathematik voll¬
bracht und die Mathematiker haben es muͤſſen gelten
laſſen. Um die Phaͤnomene der Farbenlehre zu begreifen
gehoͤrt weiter nichts als ein reines Anſchauen und ein
geſunder Kopf; allein beydes iſt freilich ſeltener als
man glauben ſollte.“

Wie ſtehen denn die jetzigen Franzoſen und Eng¬
laͤnder zur Farbenlehre? fragte ich.

„Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre
Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Englaͤndern
iſt es gut, daß ſie alles practiſch machen; aber ſie ſind
Pedanten. Die Franzoſen ſind gute Koͤpfe, aber es ſoll
bey ihnen alles poſitiv ſeyn, und wenn es nicht ſo iſt,
ſo machen ſie es ſo. Doch ſie ſind in der Farbenlehre
auf gutem Wege und Einer ihrer Beſten kommt nahe
heran. Er ſagt: die Farbe ſey den Dingen angeſchaf¬
fen. Denn wie es in der Natur ein Saͤurendes gebe,
ſo gebe es auch ein Faͤrbendes. Damit ſind nun freylich
die Phaͤnomene nicht erklaͤrt; allein er ſpielt doch den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0287" n="267"/>
und wo die edle Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ogleich als Un&#x017F;inn er¬<lb/>
&#x017F;cheint. Und als ob alles nur dann exi&#x017F;tirte, wenn es<lb/>
&#x017F;ich mathemati&#x017F;ch bewei&#x017F;en la&#x0364;ßt. Es wa&#x0364;re doch tho&#x0364;¬<lb/>
richt, wenn jemand nicht an die Liebe &#x017F;eines Ma&#x0364;dchens<lb/>
glauben wollte, weil &#x017F;ie ihm &#x017F;olche nicht mathemati&#x017F;ch<lb/>
bewei&#x017F;en kann! Ihre Mitgift kann &#x017F;ie ihm mathema¬<lb/>
ti&#x017F;ch bewei&#x017F;en, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch<lb/>
die Mathematiker nicht die Metamorpho&#x017F;e der Pflanze<lb/>
erfunden! Ich habe die&#x017F;es ohne die Mathematik voll¬<lb/>
bracht und die Mathematiker haben es mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en gelten<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Um die Pha&#x0364;nomene der Farbenlehre zu begreifen<lb/>
geho&#x0364;rt weiter nichts als ein reines An&#x017F;chauen und ein<lb/>
ge&#x017F;under Kopf; allein beydes i&#x017F;t freilich &#x017F;eltener als<lb/>
man glauben &#x017F;ollte.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wie &#x017F;tehen denn die jetzigen Franzo&#x017F;en und Eng¬<lb/>
la&#x0364;nder zur Farbenlehre? fragte ich.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre<lb/>
Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Engla&#x0364;ndern<lb/>
i&#x017F;t es gut, daß &#x017F;ie alles practi&#x017F;ch machen; aber &#x017F;ie &#x017F;ind<lb/>
Pedanten. Die Franzo&#x017F;en &#x017F;ind gute Ko&#x0364;pfe, aber es &#x017F;oll<lb/>
bey ihnen alles po&#x017F;itiv &#x017F;eyn, und wenn es nicht &#x017F;o i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o machen &#x017F;ie es &#x017F;o. Doch &#x017F;ie &#x017F;ind in der Farbenlehre<lb/>
auf gutem Wege und Einer ihrer Be&#x017F;ten kommt nahe<lb/>
heran. Er &#x017F;agt: die Farbe &#x017F;ey den Dingen ange&#x017F;chaf¬<lb/>
fen. Denn wie es in der Natur ein Sa&#x0364;urendes gebe,<lb/>
&#x017F;o gebe es auch ein Fa&#x0364;rbendes. Damit &#x017F;ind nun freylich<lb/>
die Pha&#x0364;nomene nicht erkla&#x0364;rt; allein er &#x017F;pielt doch den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[267/0287] und wo die edle Wiſſenſchaft ſogleich als Unſinn er¬ ſcheint. Und als ob alles nur dann exiſtirte, wenn es ſich mathematiſch beweiſen laͤßt. Es waͤre doch thoͤ¬ richt, wenn jemand nicht an die Liebe ſeines Maͤdchens glauben wollte, weil ſie ihm ſolche nicht mathematiſch beweiſen kann! Ihre Mitgift kann ſie ihm mathema¬ tiſch beweiſen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch die Mathematiker nicht die Metamorphoſe der Pflanze erfunden! Ich habe dieſes ohne die Mathematik voll¬ bracht und die Mathematiker haben es muͤſſen gelten laſſen. Um die Phaͤnomene der Farbenlehre zu begreifen gehoͤrt weiter nichts als ein reines Anſchauen und ein geſunder Kopf; allein beydes iſt freilich ſeltener als man glauben ſollte.“ Wie ſtehen denn die jetzigen Franzoſen und Eng¬ laͤnder zur Farbenlehre? fragte ich. „Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Englaͤndern iſt es gut, daß ſie alles practiſch machen; aber ſie ſind Pedanten. Die Franzoſen ſind gute Koͤpfe, aber es ſoll bey ihnen alles poſitiv ſeyn, und wenn es nicht ſo iſt, ſo machen ſie es ſo. Doch ſie ſind in der Farbenlehre auf gutem Wege und Einer ihrer Beſten kommt nahe heran. Er ſagt: die Farbe ſey den Dingen angeſchaf¬ fen. Denn wie es in der Natur ein Saͤurendes gebe, ſo gebe es auch ein Faͤrbendes. Damit ſind nun freylich die Phaͤnomene nicht erklaͤrt; allein er ſpielt doch den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/287
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/287>, abgerufen am 11.06.2024.