haben, fuhr Goethe fort, so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. -- Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe werth gewesen."
Bey diesen Worten athmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von der Trefflichkeit dieser wunderbaren Composition fing an sich in mir zu regen.
Goethe fuhr fort. "Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dieß ist das Ideelle, dieß die Blume. Und das grüne Blätterwerk der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da und nur dieserwegen etwas werth. Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargestellt ist, ja es kann uns auch von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Her¬ zen des Dichters hervorging."
Wie sehr Goethe Recht hatte, empfand ich lebhaft,
haben, fuhr Goethe fort, ſo denken Sie ſich aus der Wurzel hervorſchießend ein gruͤnes Gewaͤchs, das eine Weile aus einem ſtarken Stengel kraͤftige gruͤne Blaͤtter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. — Die Blume war unerwartet, uͤberraſchend, aber ſie mußte kommen; ja das gruͤne Blaͤtterwerk war nur fuͤr ſie da und waͤre ohne ſie nicht der Muͤhe werth geweſen.“
Bey dieſen Worten athmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von der Trefflichkeit dieſer wunderbaren Compoſition fing an ſich in mir zu regen.
Goethe fuhr fort. „Zu zeigen, wie das Unbaͤndige, Unuͤberwindliche oft beſſer durch Liebe und Froͤmmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieſer Novelle, und dieſes ſchoͤne Ziel, welches ſich im Kinde und Loͤwen darſtellt, reizte mich zur Ausfuͤhrung. Dieß iſt das Ideelle, dieß die Blume. Und das gruͤne Blaͤtterwerk der durchaus realen Expoſition iſt nur dieſerwegen da und nur dieſerwegen etwas werth. Denn was ſoll das Reale an ſich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargeſtellt iſt, ja es kann uns auch von gewiſſen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn fuͤr unſere hoͤhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Her¬ zen des Dichters hervorging.“
Wie ſehr Goethe Recht hatte, empfand ich lebhaft,
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haben, fuhr Goethe fort, ſo denken Sie ſich aus der
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Weile aus einem ſtarken Stengel kraͤftige gruͤne Blaͤtter
nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume
endet. — Die Blume war unerwartet, uͤberraſchend,
aber ſie mußte kommen; ja das gruͤne Blaͤtterwerk war
nur fuͤr ſie da und waͤre ohne ſie nicht der Muͤhe werth
geweſen.“
Bey dieſen Worten athmete ich leicht auf, es fiel
mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von
der Trefflichkeit dieſer wunderbaren Compoſition fing an
ſich in mir zu regen.
Goethe fuhr fort. „Zu zeigen, wie das Unbaͤndige,
Unuͤberwindliche oft beſſer durch Liebe und Froͤmmigkeit
als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe
dieſer Novelle, und dieſes ſchoͤne Ziel, welches ſich im
Kinde und Loͤwen darſtellt, reizte mich zur Ausfuͤhrung.
Dieß iſt das Ideelle, dieß die Blume. Und das gruͤne
Blaͤtterwerk der durchaus realen Expoſition iſt nur
dieſerwegen da und nur dieſerwegen etwas werth. Denn
was ſoll das Reale an ſich? Wir haben Freude daran,
wenn es mit Wahrheit dargeſtellt iſt, ja es kann uns
auch von gewiſſen Dingen eine deutlichere Erkenntniß
geben; aber der eigentliche Gewinn fuͤr unſere hoͤhere
Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Her¬
zen des Dichters hervorging.“
Wie ſehr Goethe Recht hatte, empfand ich lebhaft,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/322>, abgerufen am 25.11.2024.
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