mannigfaltig, besonders aber waren die Frömmler einiger norddeutschen Städte ein oft wiederkehrender Gegenstand. Es ward bemerkt, daß diese pietistischen Absonderungen ganze Familien mit einander uneins gemacht und zer¬ sprengt hätten. Ich konnte einen ähnlichen Fall erzäh¬ len, wo ich fast einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu seiner Meinung zu bekehren. Dieser, sagte ich, war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienst und alle gute Werke nichts seyen, und daß der Mensch bloß durch die Gnade Christi ein gutes Verhältniß zur Gott¬ heit gewinnen könne. Etwas ähnliches, sagte Frau von Goethe, hat auch eine Freundinn zu mir gesagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit die¬ sen guten Werken und dieser Gnade für ein Bewand¬ niß hat.
"So wie alle diese Dinge, sagte Goethe, heutiges Tages in der Welt in Cours und Gespräch sind, ist es nichts als ein Mantsch und vielleicht niemand von euch weiß, wo es herkommt. Ich will es euch sagen. Die Lehre von den guten Werken, daß nämlich der Mensch durch Gutesthun, Vermächtnisse und milde Stiftungen eine Sünde abverdienen und sich überhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben könne, ist katholisch. Die Reformatoren aber, aus Opposition, verwarfen diese Lehre, und setzten dafür an die Stelle, daß der Mensch einzig und allein trachten müsse, die Verdienste Christi
mannigfaltig, beſonders aber waren die Froͤmmler einiger norddeutſchen Staͤdte ein oft wiederkehrender Gegenſtand. Es ward bemerkt, daß dieſe pietiſtiſchen Abſonderungen ganze Familien mit einander uneins gemacht und zer¬ ſprengt haͤtten. Ich konnte einen aͤhnlichen Fall erzaͤh¬ len, wo ich faſt einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu ſeiner Meinung zu bekehren. Dieſer, ſagte ich, war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienſt und alle gute Werke nichts ſeyen, und daß der Menſch bloß durch die Gnade Chriſti ein gutes Verhaͤltniß zur Gott¬ heit gewinnen koͤnne. Etwas aͤhnliches, ſagte Frau von Goethe, hat auch eine Freundinn zu mir geſagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit die¬ ſen guten Werken und dieſer Gnade fuͤr ein Bewand¬ niß hat.
„So wie alle dieſe Dinge, ſagte Goethe, heutiges Tages in der Welt in Cours und Geſpraͤch ſind, iſt es nichts als ein Mantſch und vielleicht niemand von euch weiß, wo es herkommt. Ich will es euch ſagen. Die Lehre von den guten Werken, daß naͤmlich der Menſch durch Gutesthun, Vermaͤchtniſſe und milde Stiftungen eine Suͤnde abverdienen und ſich uͤberhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben koͤnne, iſt katholiſch. Die Reformatoren aber, aus Oppoſition, verwarfen dieſe Lehre, und ſetzten dafuͤr an die Stelle, daß der Menſch einzig und allein trachten muͤſſe, die Verdienſte Chriſti
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mannigfaltig, beſonders aber waren die Froͤmmler einiger
norddeutſchen Staͤdte ein oft wiederkehrender Gegenſtand.
Es ward bemerkt, daß dieſe pietiſtiſchen Abſonderungen
ganze Familien mit einander uneins gemacht und zer¬
ſprengt haͤtten. Ich konnte einen aͤhnlichen Fall erzaͤh¬
len, wo ich faſt einen trefflichen Freund verloren, weil
es ihm nicht gelingen wollen, mich zu ſeiner Meinung
zu bekehren. Dieſer, ſagte ich, war ganz von dem
Glauben durchdrungen, daß alles Verdienſt und alle
gute Werke nichts ſeyen, und daß der Menſch bloß
durch die Gnade Chriſti ein gutes Verhaͤltniß zur Gott¬
heit gewinnen koͤnne. Etwas aͤhnliches, ſagte Frau
von Goethe, hat auch eine Freundinn zu mir geſagt,
aber ich weiß noch immer nicht, was es mit die¬
ſen guten Werken und dieſer Gnade fuͤr ein Bewand¬
niß hat.
„So wie alle dieſe Dinge, ſagte Goethe, heutiges
Tages in der Welt in Cours und Geſpraͤch ſind, iſt es
nichts als ein Mantſch und vielleicht niemand von euch
weiß, wo es herkommt. Ich will es euch ſagen. Die
Lehre von den guten Werken, daß naͤmlich der Menſch
durch Gutesthun, Vermaͤchtniſſe und milde Stiftungen
eine Suͤnde abverdienen und ſich uͤberhaupt in der
Gnade Gottes dadurch heben koͤnne, iſt katholiſch. Die
Reformatoren aber, aus Oppoſition, verwarfen dieſe
Lehre, und ſetzten dafuͤr an die Stelle, daß der Menſch
einzig und allein trachten muͤſſe, die Verdienſte Chriſti
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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