wohner zugestanden hat. Und gewiß! wer sein Leben¬ lang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre, müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luf¬ tigen Birken sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im Allgemeinen nicht so sensibler Na¬ tur sind als wir andern, und daß sie im Ganzen kräf¬ tig vor sich hinleben, ohne den äußeren Eindrücken so viele Gewalt einzuräumen. Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Race, sowohl Boden und Clima, als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den Character eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die frühesten Stämme meistentheils von einem Boden Besitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und wo also die Gegend mit dem angeborenen Character der Menschen bereits in Harmonie stand."
"Sehen Sie sich einmal um, fuhr Goethe fort, hin¬ ter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu betrachten bitte." Dieses blaue Briefcouvert? sagte ich. "Ja, sagte Goethe. -- Nun, was sagen Sie zu der Handschrift? Ist das nicht ein Mensch, dem es groß und frey zu Sinne war, als er die Adresse schrieb? -- Wem möchten Sie die Hand zutrauen?"
Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Züge der Handschrift waren sehr frey und grandios. Merck könnte so geschrieben haben, sagte ich. "Nein, sagte Goethe, der war nicht edel und positiv genug. Es ist von Zelter! -- Papier und Feder hat ihn bey diesem
wohner zugeſtanden hat. Und gewiß! wer ſein Leben¬ lang von hohen ernſten Eichen umgeben waͤre, muͤßte ein anderer Menſch werden, als wer taͤglich unter luf¬ tigen Birken ſich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menſchen im Allgemeinen nicht ſo ſenſibler Na¬ tur ſind als wir andern, und daß ſie im Ganzen kraͤf¬ tig vor ſich hinleben, ohne den aͤußeren Eindruͤcken ſo viele Gewalt einzuraͤumen. Aber ſo viel iſt gewiß, daß außer dem Angeborenen der Raçe, ſowohl Boden und Clima, als Nahrung und Beſchaͤftigung einwirkt, um den Character eines Volkes zu vollenden. Auch iſt zu bedenken, daß die fruͤheſten Staͤmme meiſtentheils von einem Boden Beſitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und wo alſo die Gegend mit dem angeborenen Character der Menſchen bereits in Harmonie ſtand.“
„Sehen Sie ſich einmal um, fuhr Goethe fort, hin¬ ter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich zu betrachten bitte.“ Dieſes blaue Briefcouvert? ſagte ich. „Ja, ſagte Goethe. — Nun, was ſagen Sie zu der Handſchrift? Iſt das nicht ein Menſch, dem es groß und frey zu Sinne war, als er die Adreſſe ſchrieb? — Wem moͤchten Sie die Hand zutrauen?“
Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Zuͤge der Handſchrift waren ſehr frey und grandios. Merck koͤnnte ſo geſchrieben haben, ſagte ich. „Nein, ſagte Goethe, der war nicht edel und poſitiv genug. Es iſt von Zelter! — Papier und Feder hat ihn bey dieſem
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wohner zugeſtanden hat. Und gewiß! wer ſein Leben¬
lang von hohen ernſten Eichen umgeben waͤre, muͤßte
ein anderer Menſch werden, als wer taͤglich unter luf¬
tigen Birken ſich erginge. Nur muß man bedenken,
daß die Menſchen im Allgemeinen nicht ſo ſenſibler Na¬
tur ſind als wir andern, und daß ſie im Ganzen kraͤf¬
tig vor ſich hinleben, ohne den aͤußeren Eindruͤcken ſo
viele Gewalt einzuraͤumen. Aber ſo viel iſt gewiß, daß
außer dem Angeborenen der Raçe, ſowohl Boden und
Clima, als Nahrung und Beſchaͤftigung einwirkt, um
den Character eines Volkes zu vollenden. Auch iſt zu
bedenken, daß die fruͤheſten Staͤmme meiſtentheils von
einem Boden Beſitz nahmen, wo es ihnen gefiel, und
wo alſo die Gegend mit dem angeborenen Character der
Menſchen bereits in Harmonie ſtand.“
„Sehen Sie ſich einmal um, fuhr Goethe fort, hin¬
ter Ihnen auf dem Pult liegt ein Blatt, welches ich
zu betrachten bitte.“ Dieſes blaue Briefcouvert? ſagte
ich. „Ja, ſagte Goethe. — Nun, was ſagen Sie zu
der Handſchrift? Iſt das nicht ein Menſch, dem es groß
und frey zu Sinne war, als er die Adreſſe ſchrieb? —
Wem moͤchten Sie die Hand zutrauen?“
Ich betrachtete das Blatt mit Neigung. Die Zuͤge
der Handſchrift waren ſehr frey und grandios. Merck
koͤnnte ſo geſchrieben haben, ſagte ich. „Nein, ſagte
Goethe, der war nicht edel und poſitiv genug. Es iſt
von Zelter! — Papier und Feder hat ihn bey dieſem
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/104>, abgerufen am 21.11.2024.
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