Jahre bedenken und danach seine Gegenstände wählen. Meine Iphigenie und mein Tasso sind mir gelun¬ gen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinn¬ lichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben zu können. Jetzt in meinem Alter wären so ideelle Ge¬ genstände nicht für mich geeignet, und ich thue vielmehr wohl, solche zu wählen, wo eine gewisse Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Wenn Genasts hier bleiben, so schreibe ich euch zwey Stücke, jedes in einem Act und in Prosa. Das eine von der heitersten Art, mit einer Hochzeit endend, das andere grausam und erschüt¬ ternd, so daß am Ende zwey Leichname zurückbleiben. Das letztere rührt noch aus Schillers Zeit her, und er hat auf mein Antreiben schon eine Scene davon geschrie¬ ben. Beyde Süjets habe ich lange durchdacht, und sie sind mir so vollkommen gegenwärtig, daß ich jedes in acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem Bür¬ gergeneral gethan habe."
Thun Sie es, sagte ich, schreiben Sie die beyden Stücke auf jeden Fall; es ist Ihnen nach den Wan¬ derjahren eine Erfrischung und wirkt wie eine kleine Reise. Und wie würde die Welt sich freuen, wenn Sie dem Theater noch etwas zu Liebe thäten, was Niemand mehr erwartet.
"Wie gesagt, fuhr Goethe fort, wenn Genasts hier bleiben, so bin ich gar nicht sicher, daß ich euch
Jahre bedenken und danach ſeine Gegenſtaͤnde waͤhlen. Meine Iphigenie und mein Taſſo ſind mir gelun¬ gen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinn¬ lichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben zu koͤnnen. Jetzt in meinem Alter waͤren ſo ideelle Ge¬ genſtaͤnde nicht fuͤr mich geeignet, und ich thue vielmehr wohl, ſolche zu waͤhlen, wo eine gewiſſe Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Wenn Genaſts hier bleiben, ſo ſchreibe ich euch zwey Stuͤcke, jedes in einem Act und in Proſa. Das eine von der heiterſten Art, mit einer Hochzeit endend, das andere grauſam und erſchuͤt¬ ternd, ſo daß am Ende zwey Leichname zuruͤckbleiben. Das letztere ruͤhrt noch aus Schillers Zeit her, und er hat auf mein Antreiben ſchon eine Scene davon geſchrie¬ ben. Beyde Suͤjets habe ich lange durchdacht, und ſie ſind mir ſo vollkommen gegenwaͤrtig, daß ich jedes in acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem Buͤr¬ gergeneral gethan habe.“
Thun Sie es, ſagte ich, ſchreiben Sie die beyden Stuͤcke auf jeden Fall; es iſt Ihnen nach den Wan¬ derjahren eine Erfriſchung und wirkt wie eine kleine Reiſe. Und wie wuͤrde die Welt ſich freuen, wenn Sie dem Theater noch etwas zu Liebe thaͤten, was Niemand mehr erwartet.
„Wie geſagt, fuhr Goethe fort, wenn Genaſts hier bleiben, ſo bin ich gar nicht ſicher, daß ich euch
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Jahre bedenken und danach ſeine Gegenſtaͤnde waͤhlen.
Meine Iphigenie und mein Taſſo ſind mir gelun¬
gen, weil ich jung genug war, um mit meiner Sinn¬
lichkeit das Ideelle des Stoffes durchdringen und beleben
zu koͤnnen. Jetzt in meinem Alter waͤren ſo ideelle Ge¬
genſtaͤnde nicht fuͤr mich geeignet, und ich thue vielmehr
wohl, ſolche zu waͤhlen, wo eine gewiſſe Sinnlichkeit
bereits im Stoffe liegt. Wenn Genaſts hier bleiben,
ſo ſchreibe ich euch zwey Stuͤcke, jedes in einem Act
und in Proſa. Das eine von der heiterſten Art, mit
einer Hochzeit endend, das andere grauſam und erſchuͤt¬
ternd, ſo daß am Ende zwey Leichname zuruͤckbleiben.
Das letztere ruͤhrt noch aus Schillers Zeit her, und er
hat auf mein Antreiben ſchon eine Scene davon geſchrie¬
ben. Beyde Suͤjets habe ich lange durchdacht, und ſie
ſind mir ſo vollkommen gegenwaͤrtig, daß ich jedes in
acht Tagen dictiren wollte, wie ich es mit meinem Buͤr¬
gergeneral gethan habe.“
Thun Sie es, ſagte ich, ſchreiben Sie die beyden
Stuͤcke auf jeden Fall; es iſt Ihnen nach den Wan¬
derjahren eine Erfriſchung und wirkt wie eine kleine
Reiſe. Und wie wuͤrde die Welt ſich freuen, wenn Sie
dem Theater noch etwas zu Liebe thaͤten, was Niemand
mehr erwartet.
„Wie geſagt, fuhr Goethe fort, wenn Genaſts
hier bleiben, ſo bin ich gar nicht ſicher, daß ich euch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/68>, abgerufen am 24.11.2024.
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