Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

ten hätte ich jedoch die Menschen nie kennen gelernt
wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem
reinen Anschauen und Denken, den Irrthümern der
Sinne wie des Verstandes, den Character-Schwächen
und -Stärken nicht so nachkommen; es ist alles mehr
oder weniger biegsam und schwankend, und läßt alles
mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur
versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer
ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die
Fehler und Irrthümer sind immer des Menschen. Den
Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulängli¬
chen, Wahren und Reinen ergiebt sie sich und offenbart
ihm ihre Geheimnisse."

"Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch
muß fähig seyn, sich zur höchsten Vernunft erheben zu
können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Ur¬
phänomenen, physischen wie sittlichen, offenbaret, hinter
denen sie sich hält und die von ihr ausgehen."

"Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber
nicht im Todten; sie ist im Werdenden und sich Ver¬
wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten.
Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum
Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu
thun; der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten,
daß er es nutze."

"Die Mineralogie ist daher eine Wissenschaft für
den Verstand, für das practische Leben, denn ihre Ge¬

ten haͤtte ich jedoch die Menſchen nie kennen gelernt
wie ſie ſind. In allen anderen Dingen kann man dem
reinen Anſchauen und Denken, den Irrthuͤmern der
Sinne wie des Verſtandes, den Character-Schwaͤchen
und -Staͤrken nicht ſo nachkommen; es iſt alles mehr
oder weniger biegſam und ſchwankend, und laͤßt alles
mehr oder weniger mit ſich handeln; aber die Natur
verſteht gar keinen Spaß, ſie iſt immer wahr, immer
ernſt, immer ſtrenge; ſie hat immer Recht, und die
Fehler und Irrthuͤmer ſind immer des Menſchen. Den
Unzulaͤnglichen verſchmaͤht ſie, und nur dem Zulaͤngli¬
chen, Wahren und Reinen ergiebt ſie ſich und offenbart
ihm ihre Geheimniſſe.“

„Der Verſtand reicht zu ihr nicht hinauf, der Menſch
muß faͤhig ſeyn, ſich zur hoͤchſten Vernunft erheben zu
koͤnnen, um an die Gottheit zu ruͤhren, die ſich in Ur¬
phaͤnomenen, phyſiſchen wie ſittlichen, offenbaret, hinter
denen ſie ſich haͤlt und die von ihr ausgehen.“

„Die Gottheit aber iſt wirkſam im Lebendigen, aber
nicht im Todten; ſie iſt im Werdenden und ſich Ver¬
wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erſtarrten.
Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum
Goͤttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu
thun; der Verſtand mit dem Gewordenen, Erſtarrten,
daß er es nutze.“

„Die Mineralogie iſt daher eine Wiſſenſchaft fuͤr
den Verſtand, fuͤr das practiſche Leben, denn ihre Ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0078" n="68"/>
ten ha&#x0364;tte ich jedoch die Men&#x017F;chen nie kennen gelernt<lb/>
wie &#x017F;ie &#x017F;ind. In allen anderen Dingen kann man dem<lb/>
reinen An&#x017F;chauen und Denken, den Irrthu&#x0364;mern der<lb/>
Sinne wie des Ver&#x017F;tandes, den Character-Schwa&#x0364;chen<lb/>
und -Sta&#x0364;rken nicht &#x017F;o nachkommen; es i&#x017F;t alles mehr<lb/>
oder weniger bieg&#x017F;am und &#x017F;chwankend, und la&#x0364;ßt alles<lb/>
mehr oder weniger mit &#x017F;ich handeln; aber die <hi rendition="#g">Natur</hi><lb/>
ver&#x017F;teht gar keinen Spaß, &#x017F;ie i&#x017F;t immer wahr, immer<lb/>
ern&#x017F;t, immer &#x017F;trenge; &#x017F;ie hat immer Recht, und die<lb/>
Fehler und Irrthu&#x0364;mer &#x017F;ind immer des Men&#x017F;chen. Den<lb/>
Unzula&#x0364;nglichen ver&#x017F;chma&#x0364;ht &#x017F;ie, und nur dem Zula&#x0364;ngli¬<lb/>
chen, Wahren und Reinen ergiebt &#x017F;ie &#x017F;ich und offenbart<lb/>
ihm ihre Geheimni&#x017F;&#x017F;e.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der Ver&#x017F;tand reicht zu ihr nicht hinauf, der Men&#x017F;ch<lb/>
muß fa&#x0364;hig &#x017F;eyn, &#x017F;ich zur ho&#x0364;ch&#x017F;ten Vernunft erheben zu<lb/>
ko&#x0364;nnen, um an die Gottheit zu ru&#x0364;hren, die &#x017F;ich in Ur¬<lb/>
pha&#x0364;nomenen, phy&#x017F;i&#x017F;chen wie &#x017F;ittlichen, offenbaret, hinter<lb/>
denen &#x017F;ie &#x017F;ich ha&#x0364;lt und die von ihr ausgehen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Gottheit aber i&#x017F;t wirk&#x017F;am im Lebendigen, aber<lb/>
nicht im Todten; &#x017F;ie i&#x017F;t im Werdenden und &#x017F;ich Ver¬<lb/>
wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Er&#x017F;tarrten.<lb/>
Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum<lb/>
Go&#x0364;ttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu<lb/>
thun; der Ver&#x017F;tand mit dem Gewordenen, Er&#x017F;tarrten,<lb/>
daß er es nutze.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die <hi rendition="#g">Mineralogie</hi> i&#x017F;t daher eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft fu&#x0364;r<lb/>
den Ver&#x017F;tand, fu&#x0364;r das practi&#x017F;che Leben, denn ihre Ge¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0078] ten haͤtte ich jedoch die Menſchen nie kennen gelernt wie ſie ſind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen Anſchauen und Denken, den Irrthuͤmern der Sinne wie des Verſtandes, den Character-Schwaͤchen und -Staͤrken nicht ſo nachkommen; es iſt alles mehr oder weniger biegſam und ſchwankend, und laͤßt alles mehr oder weniger mit ſich handeln; aber die Natur verſteht gar keinen Spaß, ſie iſt immer wahr, immer ernſt, immer ſtrenge; ſie hat immer Recht, und die Fehler und Irrthuͤmer ſind immer des Menſchen. Den Unzulaͤnglichen verſchmaͤht ſie, und nur dem Zulaͤngli¬ chen, Wahren und Reinen ergiebt ſie ſich und offenbart ihm ihre Geheimniſſe.“ „Der Verſtand reicht zu ihr nicht hinauf, der Menſch muß faͤhig ſeyn, ſich zur hoͤchſten Vernunft erheben zu koͤnnen, um an die Gottheit zu ruͤhren, die ſich in Ur¬ phaͤnomenen, phyſiſchen wie ſittlichen, offenbaret, hinter denen ſie ſich haͤlt und die von ihr ausgehen.“ „Die Gottheit aber iſt wirkſam im Lebendigen, aber nicht im Todten; ſie iſt im Werdenden und ſich Ver¬ wandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erſtarrten. Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Goͤttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu thun; der Verſtand mit dem Gewordenen, Erſtarrten, daß er es nutze.“ „Die Mineralogie iſt daher eine Wiſſenſchaft fuͤr den Verſtand, fuͤr das practiſche Leben, denn ihre Ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/78
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/78>, abgerufen am 25.11.2024.