Nun geht die Aehnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verstoßen; aber nachdem das Orakel über Beide ausgesagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, so sucht man Beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odysseus, zum Oedip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit List und süßen Worten; als aber diese nichts fruch¬ ten, so brauchen sie Gewalt, und wir sehen den Phi¬ loktet des Bogens und den Oedip der Tochter beraubt.
"Solche Gewaltthätigkeiten, sagte Goethe, gaben Anlaß zu trefflichen Wechselreden, und solche hülflose Zustände erregten die Gemüther des hörenden und schauenden Volkes, weßhalb denn solche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf sein Publicum zu thun war, gerne herbeigeführt wurden. Um diese Wirkung beim Oedip zu verstärken, läßt ihn Sophokles als schwachen Greis auftreten, da er doch, allen Um¬ ständen nach, noch ein Mann in seiner besten Blüthe seyn mußte. Aber in so rüstigem Alter konnte ihn der Dichter in diesem Stück nicht gebrauchen, er hätte keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu einem schwachen, hülfsbedürftigen Greise."
Die Aehnlichkeit mit dem Philoktet, fuhr ich fort, geht weiter. Beide Helden des Stückes sind nicht handelnd, sondern duldend. Dagegen hat jeder dieser passiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen sich. Der Oedip den Kreon und Polineikes, der Phi¬
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Nun geht die Aehnlichkeit weiter. Beide hat man in ihrem Leiden verſtoßen; aber nachdem das Orakel über Beide ausgeſagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg erlangt werden könne, ſo ſucht man Beider wieder habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odyſſeus, zum Oedip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden mit Liſt und ſüßen Worten; als aber dieſe nichts fruch¬ ten, ſo brauchen ſie Gewalt, und wir ſehen den Phi¬ loktet des Bogens und den Oedip der Tochter beraubt.
„Solche Gewaltthätigkeiten, ſagte Goethe, gaben Anlaß zu trefflichen Wechſelreden, und ſolche hülfloſe Zuſtände erregten die Gemüther des hörenden und ſchauenden Volkes, weßhalb denn ſolche Situationen vom Dichter, dem es um Wirkung auf ſein Publicum zu thun war, gerne herbeigeführt wurden. Um dieſe Wirkung beim Oedip zu verſtärken, läßt ihn Sophokles als ſchwachen Greis auftreten, da er doch, allen Um¬ ſtänden nach, noch ein Mann in ſeiner beſten Blüthe ſeyn mußte. Aber in ſo rüſtigem Alter konnte ihn der Dichter in dieſem Stück nicht gebrauchen, er hätte keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu einem ſchwachen, hülfsbedürftigen Greiſe.“
Die Aehnlichkeit mit dem Philoktet, fuhr ich fort, geht weiter. Beide Helden des Stückes ſind nicht handelnd, ſondern duldend. Dagegen hat jeder dieſer paſſiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen ſich. Der Oedip den Kreon und Polineikes, der Phi¬
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Nun geht die Aehnlichkeit weiter. Beide hat man in
ihrem Leiden verſtoßen; aber nachdem das Orakel über
Beide ausgeſagt, daß nur mit ihrer Hülfe der Sieg
erlangt werden könne, ſo ſucht man Beider wieder
habhaft zu werden. Zum Philoktet kommt der Odyſſeus,
zum Oedip der Kreon. Beide beginnen ihre Reden
mit Liſt und ſüßen Worten; als aber dieſe nichts fruch¬
ten, ſo brauchen ſie Gewalt, und wir ſehen den Phi¬
loktet des Bogens und den Oedip der Tochter beraubt.
„Solche Gewaltthätigkeiten, ſagte Goethe, gaben
Anlaß zu trefflichen Wechſelreden, und ſolche hülfloſe
Zuſtände erregten die Gemüther des hörenden und
ſchauenden Volkes, weßhalb denn ſolche Situationen
vom Dichter, dem es um Wirkung auf ſein Publicum
zu thun war, gerne herbeigeführt wurden. Um dieſe
Wirkung beim Oedip zu verſtärken, läßt ihn Sophokles
als ſchwachen Greis auftreten, da er doch, allen Um¬
ſtänden nach, noch ein Mann in ſeiner beſten Blüthe
ſeyn mußte. Aber in ſo rüſtigem Alter konnte ihn der
Dichter in dieſem Stück nicht gebrauchen, er hätte
keine Wirkung gethan, und er machte ihn daher zu
einem ſchwachen, hülfsbedürftigen Greiſe.“
Die Aehnlichkeit mit dem Philoktet, fuhr ich fort,
geht weiter. Beide Helden des Stückes ſind nicht
handelnd, ſondern duldend. Dagegen hat jeder dieſer
paſſiven Helden der handelnden Figuren zwei gegen
ſich. Der Oedip den Kreon und Polineikes, der Phi¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/153>, abgerufen am 24.11.2024.
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