wirket und sobald nicht erschöpft und verzehrt seyn dürfte. Von andern großen Komponisten und Künst¬ lern gilt dasselbe. Wie haben nicht Phidias und Ra¬ phael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! -- Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst er¬ fand, so daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Mün¬ ster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie, denn seine Gedanken haben fortwährend pro¬ ductive Kraft behalten, und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird, productiv zu seyn, ist nicht abzusehen. Lessing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein seine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn selber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als sie lebten, für große Ge¬ nies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die also weniger waren, als sie und Andere dachten. Denn, wie gesagt, es giebt kein Genie ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner: es kommt dabei gar nicht auf das Geschäft, die Kunst und das Metier an, das Einer treibt, es ist Alles dasselbige. Ob Einer sich in der Wissenschaft genial erweiset, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und
wirket und ſobald nicht erſchöpft und verzehrt ſeyn dürfte. Von andern großen Komponiſten und Künſt¬ lern gilt daſſelbe. Wie haben nicht Phidias und Ra¬ phael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie nicht Dürer und Holbein! — Derjenige, der zuerſt die Formen und Verhältniſſe der altdeutſchen Baukunſt er¬ fand, ſo daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Mün¬ ſter und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie, denn ſeine Gedanken haben fortwährend pro¬ ductive Kraft behalten, und wirken bis auf die heutige Stunde. Luther war ein Genie ſehr bedeutender Art; er wirkt nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird, productiv zu ſeyn, iſt nicht abzuſehen. Leſſing wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein ſeine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn ſelber. Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar bedeutende Namen, die, als ſie lebten, für große Ge¬ nies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem Leben endete, und die alſo weniger waren, als ſie und Andere dachten. Denn, wie geſagt, es giebt kein Genie ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner: es kommt dabei gar nicht auf das Geſchäft, die Kunſt und das Metier an, das Einer treibt, es iſt Alles daſſelbige. Ob Einer ſich in der Wiſſenſchaft genial erweiſet, wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und
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wirket und ſobald nicht erſchöpft und verzehrt ſeyn
dürfte. Von andern großen Komponiſten und Künſt¬
lern gilt daſſelbe. Wie haben nicht Phidias und Ra¬
phael auf nachfolgende Jahrhunderte gewirkt, und wie
nicht Dürer und Holbein! — Derjenige, der zuerſt die
Formen und Verhältniſſe der altdeutſchen Baukunſt er¬
fand, ſo daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Mün¬
ſter und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein
Genie, denn ſeine Gedanken haben fortwährend pro¬
ductive Kraft behalten, und wirken bis auf die heutige
Stunde. Luther war ein Genie ſehr bedeutender Art;
er wirkt nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl
der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören
wird, productiv zu ſeyn, iſt nicht abzuſehen. Leſſing
wollte den hohen Titel eines Genies ablehnen; allein
ſeine dauernden Wirkungen zeugen wider ihn ſelber.
Dagegen haben wir in der Literatur andere und zwar
bedeutende Namen, die, als ſie lebten, für große Ge¬
nies gehalten wurden, deren Wirken aber mit ihrem
Leben endete, und die alſo weniger waren, als ſie und
Andere dachten. Denn, wie geſagt, es giebt kein Genie
ohne productiv fortwirkende Kraft, und ferner: es
kommt dabei gar nicht auf das Geſchäft, die Kunſt und
das Metier an, das Einer treibt, es iſt Alles daſſelbige.
Ob Einer ſich in der Wiſſenſchaft genial erweiſet,
wie Oken und Humboldt, oder im Krieg und der
Staatsverwaltung, wie Friedrich, Peter der Große und
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/251>, abgerufen am 22.11.2024.
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