"So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von den studirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele theoretisch-gelehrte Kenntnisse verlangt, wodurch die jungen Leute vor der Zeit geistig wie körperlich rui¬ nirt werden. Treten sie nun hierauf in den praktischen Dienst, so besitzen sie zwar einen ungeheueren Vorrath an philosophischen und gelehrten Dingen, allein er kann in dem beschränkten Kreise ihres Berufs gar nicht zur Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder vergessen werden. Dagegen aber, was sie am meisten bedurften, haben sie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬ thige geistige wie körperliche Energie, die bei einem tüchtigen Auftreten im praktischen Verkehr ganz uner¬ läßlich ist."
"Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬ dieners, in Behandlung der Menschen, nicht auch der Liebe und des Wohlwollens? Und wie soll Einer ge¬ gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn es ihm selber nicht wohl ist?" --
"Es ist aber den Leuten allen herzlich schlecht! Der dritte Theil der an den Schreibtisch gefesselten Gelehrten und Staatsdiener ist körperlich anbrüchig und dem Dä¬ mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth, von oben her einzuwirken, um wenigstens künftige Ge¬ nerationen vor ähnlichem Verderben zu schützen."
"Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu, hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬
„So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von den ſtudirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele theoretiſch-gelehrte Kenntniſſe verlangt, wodurch die jungen Leute vor der Zeit geiſtig wie körperlich rui¬ nirt werden. Treten ſie nun hierauf in den praktiſchen Dienſt, ſo beſitzen ſie zwar einen ungeheueren Vorrath an philoſophiſchen und gelehrten Dingen, allein er kann in dem beſchränkten Kreiſe ihres Berufs gar nicht zur Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder vergeſſen werden. Dagegen aber, was ſie am meiſten bedurften, haben ſie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬ thige geiſtige wie körperliche Energie, die bei einem tüchtigen Auftreten im praktiſchen Verkehr ganz uner¬ läßlich iſt.“
„Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬ dieners, in Behandlung der Menſchen, nicht auch der Liebe und des Wohlwollens? Und wie ſoll Einer ge¬ gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn es ihm ſelber nicht wohl iſt?“ —
„Es iſt aber den Leuten allen herzlich ſchlecht! Der dritte Theil der an den Schreibtiſch gefeſſelten Gelehrten und Staatsdiener iſt körperlich anbrüchig und dem Dä¬ mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth, von oben her einzuwirken, um wenigſtens künftige Ge¬ nerationen vor ähnlichem Verderben zu ſchützen.“
„Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu, hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0275"n="253"/><p>„So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von<lb/>
den ſtudirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele<lb/>
theoretiſch-gelehrte Kenntniſſe verlangt, wodurch die<lb/>
jungen Leute vor der Zeit geiſtig wie körperlich rui¬<lb/>
nirt werden. Treten ſie nun hierauf in den praktiſchen<lb/>
Dienſt, ſo beſitzen ſie zwar einen ungeheueren Vorrath<lb/>
an philoſophiſchen und gelehrten Dingen, allein er kann<lb/>
in dem beſchränkten Kreiſe ihres Berufs gar nicht zur<lb/>
Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder<lb/>
vergeſſen werden. Dagegen aber, was ſie am meiſten<lb/>
bedurften, haben ſie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬<lb/>
thige geiſtige wie körperliche Energie, die bei einem<lb/>
tüchtigen Auftreten im praktiſchen Verkehr ganz uner¬<lb/>
läßlich iſt.“</p><lb/><p>„Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬<lb/>
dieners, in Behandlung der Menſchen, nicht auch der<lb/>
Liebe und des Wohlwollens? Und wie ſoll Einer ge¬<lb/>
gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn<lb/>
es ihm ſelber nicht wohl iſt?“—</p><lb/><p>„Es iſt aber den Leuten allen herzlich ſchlecht! Der<lb/>
dritte Theil der an den Schreibtiſch gefeſſelten Gelehrten<lb/>
und Staatsdiener iſt körperlich anbrüchig und dem Dä¬<lb/>
mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth,<lb/>
von oben her einzuwirken, um wenigſtens künftige Ge¬<lb/>
nerationen vor ähnlichem Verderben zu ſchützen.“</p><lb/><p>„Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu,<lb/>
hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[253/0275]
„So z. B. kann ich nicht billigen, daß man von
den ſtudirenden künftigen Staatsdienern gar zu viele
theoretiſch-gelehrte Kenntniſſe verlangt, wodurch die
jungen Leute vor der Zeit geiſtig wie körperlich rui¬
nirt werden. Treten ſie nun hierauf in den praktiſchen
Dienſt, ſo beſitzen ſie zwar einen ungeheueren Vorrath
an philoſophiſchen und gelehrten Dingen, allein er kann
in dem beſchränkten Kreiſe ihres Berufs gar nicht zur
Anwendung kommen und muß daher als unnütz wieder
vergeſſen werden. Dagegen aber, was ſie am meiſten
bedurften, haben ſie eingebüßt: es fehlt ihnen die nö¬
thige geiſtige wie körperliche Energie, die bei einem
tüchtigen Auftreten im praktiſchen Verkehr ganz uner¬
läßlich iſt.“
„Und dann! bedarf es denn im Leben eines Staats¬
dieners, in Behandlung der Menſchen, nicht auch der
Liebe und des Wohlwollens? Und wie ſoll Einer ge¬
gen Andere Wohlwollen empfinden und ausüben, wenn
es ihm ſelber nicht wohl iſt?“ —
„Es iſt aber den Leuten allen herzlich ſchlecht! Der
dritte Theil der an den Schreibtiſch gefeſſelten Gelehrten
und Staatsdiener iſt körperlich anbrüchig und dem Dä¬
mon der Hypochondrie verfallen. Hier thäte es Noth,
von oben her einzuwirken, um wenigſtens künftige Ge¬
nerationen vor ähnlichem Verderben zu ſchützen.“
„Wir wollen indeß, fügte Goethe lächelnd hinzu,
hoffen und erwarten, wie es etwa in einem Jahrhun¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/275>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.