dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weise gelungen seyn sollte, so giebt schon der bloße Vorsatz und Wille, sie zu behandeln, mir von ihm eine sehr hohe Meinung. Ich finde besonders merkwürdig und schätzbar, daß bei ihm überall eine praktische, nützliche und wohlwollende Tendenz vorwaltet."
Ich hatte ihm zugleich die ersten Capitel der Reise nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorlesen wollte, die er aber vorzog allein zu betrachten.
Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬ sens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬ studien und vorbereitenden Kenntnisse sogleich jedes phi¬ losophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.
"Die guten Leutchen, fuhr er fort, wissen nicht, was es Einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht, und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre."
Mittwoch, den 27. Januar 1830.
Mittags mit Goethe sehr vergnügt bei Tisch. Er sprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬ tius. "Sein Apercu der Spiraltendenz, sagte er, ist von der höchsten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünschen, so wäre es, daß er sein entdecktes Urphänomen mit entschiedener Kühnheit durchführte, und daß er die Courage hätte, ein Factum als Gesetz
dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille, ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung. Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende Tendenz vorwaltet.“
Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die er aber vorzog allein zu betrachten.
Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬ ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬ ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬ loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.
„Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht, was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um leſen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht, und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“
Mittwoch, den 27. Januar 1830.
Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬ tius. „Sein Aperçu der Spiraltendenz, ſagte er, iſt von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte, und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0303"n="281"/>
dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen<lb/>ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille,<lb/>ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung.<lb/>
Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei<lb/>
ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende<lb/>
Tendenz vorwaltet.“</p><lb/><p>Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe<lb/>
nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die<lb/>
er aber vorzog allein zu betrachten.</p><lb/><p>Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬<lb/>ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬<lb/>ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬<lb/>
loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als<lb/>
wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.</p><lb/><p>„Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht,<lb/>
was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um <hirendition="#g">leſen<lb/>
zu lernen</hi>. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht,<lb/>
und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Mittwoch, den 27. Januar 1830.<lb/></dateline><p>Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er<lb/>ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von <hirendition="#g">Mar¬<lb/>
tius</hi>. „Sein Aper<hirendition="#aq">ç</hi>u der Spiraltendenz, ſagte er, iſt<lb/>
von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch<lb/>
etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes<lb/>
Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte,<lb/>
und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[281/0303]
dem Autor mit allen nicht auf gleiche Weiſe gelungen
ſeyn ſollte, ſo giebt ſchon der bloße Vorſatz und Wille,
ſie zu behandeln, mir von ihm eine ſehr hohe Meinung.
Ich finde beſonders merkwürdig und ſchätzbar, daß bei
ihm überall eine praktiſche, nützliche und wohlwollende
Tendenz vorwaltet.“
Ich hatte ihm zugleich die erſten Capitel der Reiſe
nach Paris mitgebracht, die ich ihm vorleſen wollte, die
er aber vorzog allein zu betrachten.
Er ſcherzte darauf über die Schwierigkeit des Le¬
ſens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vor¬
ſtudien und vorbereitenden Kenntniſſe ſogleich jedes phi¬
loſophiſche und wiſſenſchaftliche Werk leſen möchten, als
wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre.
„Die guten Leutchen, fuhr er fort, wiſſen nicht,
was es Einem für Zeit und Mühe gekoſtet, um leſen
zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht,
und kann noch jetzt nicht ſagen, daß ich am Ziele wäre.“
Mittwoch, den 27. Januar 1830.
Mittags mit Goethe ſehr vergnügt bei Tiſch. Er
ſprach mit großer Anerkennung über Herrn von Mar¬
tius. „Sein Aperçu der Spiraltendenz, ſagte er, iſt
von der höchſten Bedeutung. Hätte ich bei ihm noch
etwas zu wünſchen, ſo wäre es, daß er ſein entdecktes
Urphänomen mit entſchiedener Kühnheit durchführte,
und daß er die Courage hätte, ein Factum als Geſetz
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/303>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.