Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große Wirkung, die der Werther bei seinem Erscheinen gemacht, wirklich in der Zeit gelegen. Ich kann mich, sagte ich, nicht zu dieser allgemein verbreiteten Ansicht bekennen. Der Werther hat Epoche gemacht, weil er erschien, nicht weil er in einer gewissen Zeit erschien. Es liegt in jeder Zeit so viel unausgesprochenes Leiden, so viel heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in einzelnen Menschen so viele Mißverhältnisse zur Welt, so viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Ein¬ richtungen, daß der Werther Epoche machen würde und wenn er erst heute erschiene.
"Sie haben wohl Recht, erwiederte Goethe, weßhalb denn auch das Buch auf ein gewisses Jünglingsalter noch heute wirkt, wie damals. Auch hätte ich kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübsinn aus allgemeinen Einflüssen meiner Zeit und aus des Lectüre einzelner englischer Autoren herzuleiten. Er waren vielmehr individuelle nahe liegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten und mir zu schaffen machten, und die mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt, und sehr viel gelitten! -- Das war es."
"Die viel besprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Welt¬ cultur an, sondern dem Lebensgange jedes Einzelnen, der mit angeborenem freiem Natursinn sich in die
Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große Wirkung, die der Werther bei ſeinem Erſcheinen gemacht, wirklich in der Zeit gelegen. Ich kann mich, ſagte ich, nicht zu dieſer allgemein verbreiteten Anſicht bekennen. Der Werther hat Epoche gemacht, weil er erſchien, nicht weil er in einer gewiſſen Zeit erſchien. Es liegt in jeder Zeit ſo viel unausgeſprochenes Leiden, ſo viel heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in einzelnen Menſchen ſo viele Mißverhältniſſe zur Welt, ſo viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Ein¬ richtungen, daß der Werther Epoche machen würde und wenn er erſt heute erſchiene.
„Sie haben wohl Recht, erwiederte Goethe, weßhalb denn auch das Buch auf ein gewiſſes Jünglingsalter noch heute wirkt, wie damals. Auch hätte ich kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübſinn aus allgemeinen Einflüſſen meiner Zeit und aus des Lectüre einzelner engliſcher Autoren herzuleiten. Er waren vielmehr individuelle nahe liegende Verhältniſſe, die mir auf die Nägel brannten und mir zu ſchaffen machten, und die mich in jenen Gemüthszuſtand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt, und ſehr viel gelitten! — Das war es.“
„Die viel beſprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Welt¬ cultur an, ſondern dem Lebensgange jedes Einzelnen, der mit angeborenem freiem Naturſinn ſich in die
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Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große
Wirkung, die der Werther bei ſeinem Erſcheinen gemacht,
wirklich in der Zeit gelegen. Ich kann mich, ſagte ich,
nicht zu dieſer allgemein verbreiteten Anſicht bekennen.
Der Werther hat Epoche gemacht, weil er erſchien,
nicht weil er in einer gewiſſen Zeit erſchien. Es liegt
in jeder Zeit ſo viel unausgeſprochenes Leiden, ſo viel
heimliche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in
einzelnen Menſchen ſo viele Mißverhältniſſe zur Welt,
ſo viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Ein¬
richtungen, daß der Werther Epoche machen würde und
wenn er erſt heute erſchiene.
„Sie haben wohl Recht, erwiederte Goethe, weßhalb
denn auch das Buch auf ein gewiſſes Jünglingsalter
noch heute wirkt, wie damals. Auch hätte ich kaum
nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübſinn
aus allgemeinen Einflüſſen meiner Zeit und aus des
Lectüre einzelner engliſcher Autoren herzuleiten. Er
waren vielmehr individuelle nahe liegende Verhältniſſe,
die mir auf die Nägel brannten und mir zu ſchaffen
machten, und die mich in jenen Gemüthszuſtand brachten,
aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt,
geliebt, und ſehr viel gelitten! — Das war es.“
„Die viel beſprochene Wertherzeit gehört, wenn man
es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Welt¬
cultur an, ſondern dem Lebensgange jedes Einzelnen,
der mit angeborenem freiem Naturſinn ſich in die
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/61>, abgerufen am 23.11.2024.
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