Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

eigentlich Niemandem fehlen sollten. Es wird dadurch
in den höheren Kreisen der Geschmack für die Wissen¬
schaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel
Gutes in der Folge aus einem so unterhaltenden Halb-
Scherz entstehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬
leicht veranlaßt, im Kreise seines persönlichen Bereichs
selber zu beobachten. Und solche individuelle Wahrneh¬
mungen aus der uns umgebenden nächsten Natur sind
oft um so schätzbarer, je weniger der Beobachtende ein
eigentlicher Mann vom Fache war."

Sie scheinen also andeuten zu wollen, versetzte ich,
daß man um so schlechter beobachte, jemehr man wisse?

"Wenn das überlieferte Wissen mit Irrthümern ver¬
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! -- Sobald man
in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten Confession
angehört, ist sogleich jede unbefangene treue Auffassung
dahin. Der entschiedene Vulkanist wird immer nur
durch die Brille des Vulkanisten sehen, sowie der
Neptunist und der Bekenner der neuesten Hebungstheorie
durch die seinige. Die Weltanschauung aller solcher in
einer einzigen ausschließenden Richtung befangener Theo¬
retiker hat ihre Unschuld verloren und die Objecte erschei¬
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben
sodann diese Gelehrten von ihren Wahrnehmungen
Rechenschaft, so erhalten wir, ungeachtet der höchsten
persönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬
wegs die Wahrheit der Objecte; sondern wir empfangen

eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch
in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬
ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel
Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb-
Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬
leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs
ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬
mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind
oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein
eigentlicher Mann vom Fache war.“

Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich,
daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe?

„Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man
in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion
angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung
dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur
durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der
Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie
durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in
einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬
retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben
ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen
Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten
perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬
wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0074" n="52"/>
eigentlich Niemandem fehlen &#x017F;ollten. Es wird dadurch<lb/>
in den höheren Krei&#x017F;en der Ge&#x017F;chmack für die Wi&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;chaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel<lb/>
Gutes in der Folge aus einem &#x017F;o unterhaltenden Halb-<lb/>
Scherz ent&#x017F;tehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬<lb/>
leicht veranlaßt, im Krei&#x017F;e &#x017F;eines per&#x017F;önlichen Bereichs<lb/>
&#x017F;elber zu beobachten. Und &#x017F;olche individuelle Wahrneh¬<lb/>
mungen aus der uns umgebenden näch&#x017F;ten Natur &#x017F;ind<lb/>
oft um &#x017F;o &#x017F;chätzbarer, je weniger der Beobachtende ein<lb/>
eigentlicher Mann vom Fache war.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie &#x017F;cheinen al&#x017F;o andeuten zu wollen, ver&#x017F;etzte ich,<lb/>
daß man um &#x017F;o &#x017F;chlechter beobachte, jemehr man wi&#x017F;&#x017F;e?</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wenn das überlieferte Wi&#x017F;&#x017F;en mit Irrthümern ver¬<lb/>
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! &#x2014; Sobald man<lb/>
in der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft einer gewi&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;chränkten Confe&#x017F;&#x017F;ion<lb/>
angehört, i&#x017F;t &#x017F;ogleich jede unbefangene treue Auffa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
dahin. Der ent&#x017F;chiedene Vulkani&#x017F;t wird immer nur<lb/>
durch die Brille des Vulkani&#x017F;ten &#x017F;ehen, &#x017F;owie der<lb/>
Neptuni&#x017F;t und der Bekenner der neue&#x017F;ten Hebungstheorie<lb/>
durch die &#x017F;einige. Die Weltan&#x017F;chauung aller &#x017F;olcher in<lb/>
einer einzigen aus&#x017F;chließenden Richtung befangener Theo¬<lb/>
retiker hat ihre Un&#x017F;chuld verloren und die Objecte er&#x017F;chei¬<lb/>
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben<lb/>
&#x017F;odann die&#x017F;e Gelehrten von ihren Wahrnehmungen<lb/>
Rechen&#x017F;chaft, &#x017F;o erhalten wir, ungeachtet der höch&#x017F;ten<lb/>
per&#x017F;önlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬<lb/>
wegs die Wahrheit der Objecte; &#x017F;ondern wir empfangen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0074] eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬ ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb- Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬ leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬ mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein eigentlicher Mann vom Fache war.“ Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich, daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe? „Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬ bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬ retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬ nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬ wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/74
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/74>, abgerufen am 27.11.2024.