eigentlich Niemandem fehlen sollten. Es wird dadurch in den höheren Kreisen der Geschmack für die Wissen¬ schaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel Gutes in der Folge aus einem so unterhaltenden Halb- Scherz entstehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬ leicht veranlaßt, im Kreise seines persönlichen Bereichs selber zu beobachten. Und solche individuelle Wahrneh¬ mungen aus der uns umgebenden nächsten Natur sind oft um so schätzbarer, je weniger der Beobachtende ein eigentlicher Mann vom Fache war."
Sie scheinen also andeuten zu wollen, versetzte ich, daß man um so schlechter beobachte, jemehr man wisse?
"Wenn das überlieferte Wissen mit Irrthümern ver¬ bunden, erwiederte Goethe, allerdings! -- Sobald man in der Wissenschaft einer gewissen beschränkten Confession angehört, ist sogleich jede unbefangene treue Auffassung dahin. Der entschiedene Vulkanist wird immer nur durch die Brille des Vulkanisten sehen, sowie der Neptunist und der Bekenner der neuesten Hebungstheorie durch die seinige. Die Weltanschauung aller solcher in einer einzigen ausschließenden Richtung befangener Theo¬ retiker hat ihre Unschuld verloren und die Objecte erschei¬ nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben sodann diese Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenschaft, so erhalten wir, ungeachtet der höchsten persönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬ wegs die Wahrheit der Objecte; sondern wir empfangen
eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬ ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb- Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬ leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬ mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein eigentlicher Mann vom Fache war.“
Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich, daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe?
„Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬ bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬ retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬ nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬ wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0074"n="52"/>
eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch<lb/>
in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬<lb/>ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel<lb/>
Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb-<lb/>
Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬<lb/>
leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs<lb/>ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬<lb/>
mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind<lb/>
oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein<lb/>
eigentlicher Mann vom Fache war.“</p><lb/><p>Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich,<lb/>
daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe?</p><lb/><p>„Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬<lb/>
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man<lb/>
in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion<lb/>
angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung<lb/>
dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur<lb/>
durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der<lb/>
Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie<lb/>
durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in<lb/>
einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬<lb/>
retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬<lb/>
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben<lb/>ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen<lb/>
Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten<lb/>
perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬<lb/>
wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[52/0074]
eigentlich Niemandem fehlen ſollten. Es wird dadurch
in den höheren Kreiſen der Geſchmack für die Wiſſen¬
ſchaft angeregt und man weiß immer nicht, wie viel
Gutes in der Folge aus einem ſo unterhaltenden Halb-
Scherz entſtehen kann. Mancher gute Kopf wird viel¬
leicht veranlaßt, im Kreiſe ſeines perſönlichen Bereichs
ſelber zu beobachten. Und ſolche individuelle Wahrneh¬
mungen aus der uns umgebenden nächſten Natur ſind
oft um ſo ſchätzbarer, je weniger der Beobachtende ein
eigentlicher Mann vom Fache war.“
Sie ſcheinen alſo andeuten zu wollen, verſetzte ich,
daß man um ſo ſchlechter beobachte, jemehr man wiſſe?
„Wenn das überlieferte Wiſſen mit Irrthümern ver¬
bunden, erwiederte Goethe, allerdings! — Sobald man
in der Wiſſenſchaft einer gewiſſen beſchränkten Confeſſion
angehört, iſt ſogleich jede unbefangene treue Auffaſſung
dahin. Der entſchiedene Vulkaniſt wird immer nur
durch die Brille des Vulkaniſten ſehen, ſowie der
Neptuniſt und der Bekenner der neueſten Hebungstheorie
durch die ſeinige. Die Weltanſchauung aller ſolcher in
einer einzigen ausſchließenden Richtung befangener Theo¬
retiker hat ihre Unſchuld verloren und die Objecte erſchei¬
nen nicht mehr in ihrer natürlichen Reinheit. Geben
ſodann dieſe Gelehrten von ihren Wahrnehmungen
Rechenſchaft, ſo erhalten wir, ungeachtet der höchſten
perſönlichen Wahrheitsliebe des Einzelnen, dennoch keines¬
wegs die Wahrheit der Objecte; ſondern wir empfangen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/74>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.