die Gegenstände immer nur mit dem Geschmack einer sehr starken subjectiven Beimischung."
"Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein unbefangenes rechtes Wissen der Beobachtung hinder¬ lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht, daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das haben, was wir kennen. Der Musiker vom Fach hört beim Zusammenspiel des Orchesters jedes Instru¬ ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der Nichtkenner in der massenhaften Wirkung des Ganzen befangen ist. So sieht ferner der bloß genießende Mensch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder blumigen Wiese, während dem beobachtenden Botaniker ein unendliches Detail der verschiedenartigsten einzelnen Pflänzchen und Gräser in die Augen fällt."
"Doch hat Alles sein Maß und Ziel, und wie es schon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor lauter Gelehrsamkeit seinen eigenen Vater nicht erkennt, so stoßen wir auch in der Wissenschaft auf Leute, die vor lauter Gelehrsamkeit und Hypothesen nicht mehr zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei solchen Leuten Alles rasch nach Innen; sie sind von dem, was sie in sich herumwälzen, so occupirt, daß es ihnen geht wie einem Menschen in Leidenschaft, der in der Straße seinen liebsten Freunden vorbeirennt, ohne sie zu sehen. Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewisse ruhige Reinheit des Innern, das von gar nichts gestört und
die Gegenſtände immer nur mit dem Geſchmack einer ſehr ſtarken ſubjectiven Beimiſchung.“
„Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein unbefangenes rechtes Wiſſen der Beobachtung hinder¬ lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht, daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das haben, was wir kennen. Der Muſiker vom Fach hört beim Zuſammenſpiel des Orcheſters jedes Inſtru¬ ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der Nichtkenner in der maſſenhaften Wirkung des Ganzen befangen iſt. So ſieht ferner der bloß genießende Menſch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder blumigen Wieſe, während dem beobachtenden Botaniker ein unendliches Detail der verſchiedenartigſten einzelnen Pflänzchen und Gräſer in die Augen fällt.“
„Doch hat Alles ſein Maß und Ziel, und wie es ſchon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor lauter Gelehrſamkeit ſeinen eigenen Vater nicht erkennt, ſo ſtoßen wir auch in der Wiſſenſchaft auf Leute, die vor lauter Gelehrſamkeit und Hypotheſen nicht mehr zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei ſolchen Leuten Alles raſch nach Innen; ſie ſind von dem, was ſie in ſich herumwälzen, ſo occupirt, daß es ihnen geht wie einem Menſchen in Leidenſchaft, der in der Straße ſeinen liebſten Freunden vorbeirennt, ohne ſie zu ſehen. Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewiſſe ruhige Reinheit des Innern, das von gar nichts geſtört und
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0075"n="53"/>
die Gegenſtände immer nur mit dem Geſchmack einer<lb/>ſehr ſtarken ſubjectiven Beimiſchung.“</p><lb/><p>„Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein<lb/>
unbefangenes <hirendition="#g">rechtes</hi> Wiſſen der Beobachtung hinder¬<lb/>
lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht,<lb/>
daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das<lb/>
haben, was wir <hirendition="#g">kennen</hi>. Der Muſiker vom Fach<lb/>
hört beim Zuſammenſpiel des Orcheſters jedes Inſtru¬<lb/>
ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der<lb/>
Nichtkenner in der maſſenhaften Wirkung des Ganzen<lb/>
befangen iſt. So ſieht ferner der bloß genießende<lb/>
Menſch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder<lb/>
blumigen Wieſe, während dem beobachtenden Botaniker<lb/>
ein unendliches Detail der verſchiedenartigſten einzelnen<lb/>
Pflänzchen und Gräſer in die Augen fällt.“</p><lb/><p>„Doch hat Alles ſein Maß und Ziel, und wie es<lb/>ſchon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor<lb/>
lauter Gelehrſamkeit ſeinen eigenen Vater nicht erkennt,<lb/>ſo ſtoßen wir auch in der Wiſſenſchaft auf Leute, die<lb/>
vor lauter Gelehrſamkeit und Hypotheſen nicht mehr<lb/>
zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei ſolchen<lb/>
Leuten Alles raſch nach Innen; ſie ſind von dem, was<lb/>ſie in ſich herumwälzen, ſo occupirt, daß es ihnen geht<lb/>
wie einem Menſchen in Leidenſchaft, der in der Straße<lb/>ſeinen liebſten Freunden vorbeirennt, ohne ſie zu ſehen.<lb/>
Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewiſſe ruhige<lb/>
Reinheit des Innern, das von gar nichts geſtört und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[53/0075]
die Gegenſtände immer nur mit dem Geſchmack einer
ſehr ſtarken ſubjectiven Beimiſchung.“
„Weit entfernt aber bin ich, zu behaupten, daß ein
unbefangenes rechtes Wiſſen der Beobachtung hinder¬
lich wäre, vielmehr behält die alte Wahrheit ihr Recht,
daß wir eigentlich nur Augen und Ohren für das
haben, was wir kennen. Der Muſiker vom Fach
hört beim Zuſammenſpiel des Orcheſters jedes Inſtru¬
ment und jeden einzelnen Ton heraus, während der
Nichtkenner in der maſſenhaften Wirkung des Ganzen
befangen iſt. So ſieht ferner der bloß genießende
Menſch nur die anmuthige Fläche einer grünen oder
blumigen Wieſe, während dem beobachtenden Botaniker
ein unendliches Detail der verſchiedenartigſten einzelnen
Pflänzchen und Gräſer in die Augen fällt.“
„Doch hat Alles ſein Maß und Ziel, und wie es
ſchon in meinem Götz heißt, daß das Söhnlein vor
lauter Gelehrſamkeit ſeinen eigenen Vater nicht erkennt,
ſo ſtoßen wir auch in der Wiſſenſchaft auf Leute, die
vor lauter Gelehrſamkeit und Hypotheſen nicht mehr
zum Sehen und Hören kommen. Es geht bei ſolchen
Leuten Alles raſch nach Innen; ſie ſind von dem, was
ſie in ſich herumwälzen, ſo occupirt, daß es ihnen geht
wie einem Menſchen in Leidenſchaft, der in der Straße
ſeinen liebſten Freunden vorbeirennt, ohne ſie zu ſehen.
Es gehört zur Naturbeobachtung eine gewiſſe ruhige
Reinheit des Innern, das von gar nichts geſtört und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/75>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.