Königin, die ins Brautgemach geht, bald hüllt sie sich am Abend erst in finsteres Ge- wölk, oder auf trübe Nebeltage, auf Gewitter- stürme folgt ein lichter Abend. So geht es in der Natur, so im Leben der Menschen. Ein Vater verlebt den Abend seines Lebens in gemächlicher Ruhe und Zufriedenheit, ein anderer in Kummer und Entbehrung. Der eine sonnt sich in dem Wohlergehen und der Tugend seiner Kinder, ist glücklich durch ihre Verehrung und Dankbarkeit, der andere muß sehen, wie seine Nachkommen eigentlich nur die Not des Lebens von ihm ererbt haben, oder er muß seufzen über den Undank und die Schande, die er für seine einstigen Mühen und Sorgen erntet.
Was soll man zu einem so trüben Le- bensabende eines Vaters sagen? Es läßt sich kaum etwas anderes sagen, als was der göttliche Heiland von sich selbst gesagt hat: "Ich muß wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wir- ken kann." (Joh. 9, 4.) Jeder Mensch, so auch der Vater kann sein irdisches Tagwerk nur einmal vollbringen, und was er am Mittag versäumt hat, kann er am Abend und in der Nacht nicht mehr nachholen. Darum soll
Königin, die ins Brautgemach geht, bald hüllt sie sich am Abend erst in finsteres Ge- wölk, oder auf trübe Nebeltage, auf Gewitter- stürme folgt ein lichter Abend. So geht es in der Natur, so im Leben der Menschen. Ein Vater verlebt den Abend seines Lebens in gemächlicher Ruhe und Zufriedenheit, ein anderer in Kummer und Entbehrung. Der eine sonnt sich in dem Wohlergehen und der Tugend seiner Kinder, ist glücklich durch ihre Verehrung und Dankbarkeit, der andere muß sehen, wie seine Nachkommen eigentlich nur die Not des Lebens von ihm ererbt haben, oder er muß seufzen über den Undank und die Schande, die er für seine einstigen Mühen und Sorgen erntet.
Was soll man zu einem so trüben Le- bensabende eines Vaters sagen? Es läßt sich kaum etwas anderes sagen, als was der göttliche Heiland von sich selbst gesagt hat: „Ich muß wirken, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wir- ken kann.“ (Joh. 9, 4.) Jeder Mensch, so auch der Vater kann sein irdisches Tagwerk nur einmal vollbringen, und was er am Mittag versäumt hat, kann er am Abend und in der Nacht nicht mehr nachholen. Darum soll
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Königin, die ins Brautgemach geht, bald
hüllt sie sich am Abend erst in finsteres Ge-
wölk, oder auf trübe Nebeltage, auf Gewitter-
stürme folgt ein lichter Abend. So geht es
in der Natur, so im Leben der Menschen.
Ein Vater verlebt den Abend seines Lebens
in gemächlicher Ruhe und Zufriedenheit, ein
anderer in Kummer und Entbehrung. Der
eine sonnt sich in dem Wohlergehen und der
Tugend seiner Kinder, ist glücklich durch ihre
Verehrung und Dankbarkeit, der andere muß
sehen, wie seine Nachkommen eigentlich nur
die Not des Lebens von ihm ererbt haben,
oder er muß seufzen über den Undank und
die Schande, die er für seine einstigen Mühen
und Sorgen erntet.
Was soll man zu einem so trüben Le-
bensabende eines Vaters sagen? Es läßt
sich kaum etwas anderes sagen, als was
der göttliche Heiland von sich selbst gesagt
hat: „Ich muß wirken, so lange es Tag
ist; es kommt die Nacht, da niemand wir-
ken kann.“ (Joh. 9, 4.) Jeder Mensch, so auch
der Vater kann sein irdisches Tagwerk nur
einmal vollbringen, und was er am Mittag
versäumt hat, kann er am Abend und in der
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Egger, Augustinus: Der christliche Vater in der modernen Welt. Erbauungs- und Gebetbuch. Einsiedeln u. a., [1895], S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/egger_vater_1895/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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