dachte Friedrich. -- Es ist die Jungfrau Maria, als die große Welt-Liebe, sagte der genialische Reisende, der wenig Acht gegeben hatte, mit vor¬ nehmer Nachlässigkeit. Ey, daß Gott behüte! brach Friedrich, dem das Gedicht der Gräfin heydnisch und übermüthig vorgekommen war wie ihre ganze Schönheit, halb lachend und halb unwillig aus: Sind wir doch kaum des Vernünftelns in der Re¬ ligion los, und fangen dagegen schon wieder an, ihre festen Glaubenssätze, Wunder und Wahrheiten zu verpoetisiren und zu verflüchtigen. In wem die Religion zum Leben gelangt, wer in allem Thun und Lassen von der Gnade wahrhaft durchdrungen ist, dessen Seele mag sich auch in Liedern ihrer Entzückung und des himmlischen Glanzes erfreuen. Wer aber hochmüthig und schlau diese Geheimnisse und einfältigen Wahrheiten als beliebigen Dich¬ tungsstoff zu überschauen glaubt, wer die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verstande oder der Poesie allein, sondern allen dreyen, dem ganzen Menschen, angehört, bloß mit der Phantasie in ihren einzelnen Schönheiten willkührlich zusammen¬ rafft, der wird eben so gern an den griechischen Olymp glauben, als an das Christenthum, und eins mit dem andern verwechseln und versetzen, bis der ganze Himmel furchtbar öde und leer wird. -- Friedrich bemerkte, daß er von mehreren sehr weise belächelt wurde, als könne er sie nicht zu ihrer freyen Ansicht erheben.
dachte Friedrich. — Es iſt die Jungfrau Maria, als die große Welt-Liebe, ſagte der genialiſche Reiſende, der wenig Acht gegeben hatte, mit vor¬ nehmer Nachläſſigkeit. Ey, daß Gott behüte! brach Friedrich, dem das Gedicht der Gräfin heydniſch und übermüthig vorgekommen war wie ihre ganze Schönheit, halb lachend und halb unwillig aus: Sind wir doch kaum des Vernünftelns in der Re¬ ligion los, und fangen dagegen ſchon wieder an, ihre feſten Glaubensſätze, Wunder und Wahrheiten zu verpoetiſiren und zu verflüchtigen. In wem die Religion zum Leben gelangt, wer in allem Thun und Laſſen von der Gnade wahrhaft durchdrungen iſt, deſſen Seele mag ſich auch in Liedern ihrer Entzückung und des himmliſchen Glanzes erfreuen. Wer aber hochmüthig und ſchlau dieſe Geheimniſſe und einfältigen Wahrheiten als beliebigen Dich¬ tungsſtoff zu überſchauen glaubt, wer die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verſtande oder der Poeſie allein, ſondern allen dreyen, dem ganzen Menſchen, angehört, bloß mit der Phantaſie in ihren einzelnen Schönheiten willkührlich zuſammen¬ rafft, der wird eben ſo gern an den griechiſchen Olymp glauben, als an das Chriſtenthum, und eins mit dem andern verwechſeln und verſetzen, bis der ganze Himmel furchtbar öde und leer wird. — Friedrich bemerkte, daß er von mehreren ſehr weiſe belächelt wurde, als könne er ſie nicht zu ihrer freyen Anſicht erheben.
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[216/0222]
dachte Friedrich. — Es iſt die Jungfrau Maria,
als die große Welt-Liebe, ſagte der genialiſche
Reiſende, der wenig Acht gegeben hatte, mit vor¬
nehmer Nachläſſigkeit. Ey, daß Gott behüte! brach
Friedrich, dem das Gedicht der Gräfin heydniſch
und übermüthig vorgekommen war wie ihre ganze
Schönheit, halb lachend und halb unwillig aus:
Sind wir doch kaum des Vernünftelns in der Re¬
ligion los, und fangen dagegen ſchon wieder an,
ihre feſten Glaubensſätze, Wunder und Wahrheiten
zu verpoetiſiren und zu verflüchtigen. In wem die
Religion zum Leben gelangt, wer in allem Thun
und Laſſen von der Gnade wahrhaft durchdrungen
iſt, deſſen Seele mag ſich auch in Liedern ihrer
Entzückung und des himmliſchen Glanzes erfreuen.
Wer aber hochmüthig und ſchlau dieſe Geheimniſſe
und einfältigen Wahrheiten als beliebigen Dich¬
tungsſtoff zu überſchauen glaubt, wer die Religion,
die nicht dem Glauben, dem Verſtande oder der
Poeſie allein, ſondern allen dreyen, dem ganzen
Menſchen, angehört, bloß mit der Phantaſie in
ihren einzelnen Schönheiten willkührlich zuſammen¬
rafft, der wird eben ſo gern an den griechiſchen
Olymp glauben, als an das Chriſtenthum, und
eins mit dem andern verwechſeln und verſetzen, bis
der ganze Himmel furchtbar öde und leer wird. —
Friedrich bemerkte, daß er von mehreren ſehr weiſe
belächelt wurde, als könne er ſie nicht zu ihrer
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/222>, abgerufen am 23.11.2024.
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