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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Denselben Tag Abends erhielt sie einen Brief
von Romana, die wieder seit einiger Zeit auf einem
ihrer entferntesten Landgüther im Gebirge sich auf¬
hielt. Es war eine sehr dringende Einladung zu ei¬
ner Gemsenjagd, die in wenigen Tagen dort gehal¬
ten werden sollte. Der Brief bestand nur in eini¬
gen Zeilen und war auffallend verwirrt und selt¬
sam geschrieben, selbst Züge schienen verändert
und hatten etwas Fremdes und Verwildertes.
Ganz unten stand noch: "Letzthin, als Du auf dem
Balle beym Minister warst, war Friedrich unbe¬
merkt auch dort und hat Dich gesehen." --

Rosa versank über dieser Stelle tief in Gedan¬
ken. Sie erinnerte sich aller Umstände jenes Abends
auf einmal sehr deutlich, wie sie Friedrich'n ver¬
sprochen hatte, ihn zu Hause zu erwarten, und
wie er seitdem nicht wieder bey ihr gewesen. Ein
Schmerz, wie sie ihn noch nie gefühlt, durchdrang
ihre Seele. Sie gieng unruhig im Zimmer auf und
ab. Sie konnte es endlich nicht länger aushalten,
sie wollte alle Mädchenscheu abwerfen, sie wollte
Friedrich'n, auf welche Art es immer sey, noch
heute seh'n und sprechen. Sie war eben allein,
draussen war es schon finster. Mehreremal nahm sie
ihren Mantel um, und legte ihn zaudernd wieder
hin. Endlich faßte sie ein Herz, schlich unbemerkt
aus dem Hause und über die dunklen Gassen fort zu
Friedrichs Wohnung. Athemlos und mit klopfendem
Herzen flog sie die Stiegen hinauf, um, so ganz sein
und um alle Welt nichts fragend, an seine Brust

Denſelben Tag Abends erhielt ſie einen Brief
von Romana, die wieder ſeit einiger Zeit auf einem
ihrer entfernteſten Landgüther im Gebirge ſich auf¬
hielt. Es war eine ſehr dringende Einladung zu ei¬
ner Gemſenjagd, die in wenigen Tagen dort gehal¬
ten werden ſollte. Der Brief beſtand nur in eini¬
gen Zeilen und war auffallend verwirrt und ſelt¬
ſam geſchrieben, ſelbſt Züge ſchienen verändert
und hatten etwas Fremdes und Verwildertes.
Ganz unten ſtand noch: „Letzthin, als Du auf dem
Balle beym Miniſter warſt, war Friedrich unbe¬
merkt auch dort und hat Dich geſehen.“ —

Roſa verſank über dieſer Stelle tief in Gedan¬
ken. Sie erinnerte ſich aller Umſtände jenes Abends
auf einmal ſehr deutlich, wie ſie Friedrich'n ver¬
ſprochen hatte, ihn zu Hauſe zu erwarten, und
wie er ſeitdem nicht wieder bey ihr geweſen. Ein
Schmerz, wie ſie ihn noch nie gefühlt, durchdrang
ihre Seele. Sie gieng unruhig im Zimmer auf und
ab. Sie konnte es endlich nicht länger aushalten,
ſie wollte alle Mädchenſcheu abwerfen, ſie wollte
Friedrich'n, auf welche Art es immer ſey, noch
heute ſeh'n und ſprechen. Sie war eben allein,
drauſſen war es ſchon finſter. Mehreremal nahm ſie
ihren Mantel um, und legte ihn zaudernd wieder
hin. Endlich faßte ſie ein Herz, ſchlich unbemerkt
aus dem Hauſe und über die dunklen Gaſſen fort zu
Friedrichs Wohnung. Athemlos und mit klopfendem
Herzen flog ſie die Stiegen hinauf, um, ſo ganz ſein
und um alle Welt nichts fragend, an ſeine Bruſt

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[309/0315] Denſelben Tag Abends erhielt ſie einen Brief von Romana, die wieder ſeit einiger Zeit auf einem ihrer entfernteſten Landgüther im Gebirge ſich auf¬ hielt. Es war eine ſehr dringende Einladung zu ei¬ ner Gemſenjagd, die in wenigen Tagen dort gehal¬ ten werden ſollte. Der Brief beſtand nur in eini¬ gen Zeilen und war auffallend verwirrt und ſelt¬ ſam geſchrieben, ſelbſt Züge ſchienen verändert und hatten etwas Fremdes und Verwildertes. Ganz unten ſtand noch: „Letzthin, als Du auf dem Balle beym Miniſter warſt, war Friedrich unbe¬ merkt auch dort und hat Dich geſehen.“ — Roſa verſank über dieſer Stelle tief in Gedan¬ ken. Sie erinnerte ſich aller Umſtände jenes Abends auf einmal ſehr deutlich, wie ſie Friedrich'n ver¬ ſprochen hatte, ihn zu Hauſe zu erwarten, und wie er ſeitdem nicht wieder bey ihr geweſen. Ein Schmerz, wie ſie ihn noch nie gefühlt, durchdrang ihre Seele. Sie gieng unruhig im Zimmer auf und ab. Sie konnte es endlich nicht länger aushalten, ſie wollte alle Mädchenſcheu abwerfen, ſie wollte Friedrich'n, auf welche Art es immer ſey, noch heute ſeh'n und ſprechen. Sie war eben allein, drauſſen war es ſchon finſter. Mehreremal nahm ſie ihren Mantel um, und legte ihn zaudernd wieder hin. Endlich faßte ſie ein Herz, ſchlich unbemerkt aus dem Hauſe und über die dunklen Gaſſen fort zu Friedrichs Wohnung. Athemlos und mit klopfendem Herzen flog ſie die Stiegen hinauf, um, ſo ganz ſein und um alle Welt nichts fragend, an ſeine Bruſt

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/315>, abgerufen am 23.11.2024.