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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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den Ritter, der in gar lieblichen Worten zu ihr
sprach, ganz deutlich, und hörte dazwischen auch den
Strom, wie über ihr, immerfort verworren drein¬
rauschen. Darauf sah sie den Ritter sich wieder auf
seinen Schimmel schwingen und so schnell in den
Wald zurückspringen, daß der Wind hinter ihm
dreinpfiff.

Als es gegen Abend kam, stand sie in ihrem
Schlosse am Fenster und schaute in das Gebirge hin¬
aus, das schon die graue Dämmerung zu überziehen
anfieng. Sie sann hin und her, wer der schöne
Ritter seyn möge, aber sie konnte nichts heraus¬
bringen. Eine niegefühlte Unruhe und Aengstlichkeit
überfiel dabey ihre Seele, die immer mehr zunahm,
je dunkler draußen die Gegend wurde. Sie nahm
die Zitter, um sich zu zerstreuen. Es fiel ihr ein
altes Lied ein, das sie als Kind oft ihren Vater
in der Nacht, wenn sie manchmal erwachte, hatte
singen hören. Sie fieng an zu singen:

Obschon ist hin der Sonnenschein
Und wir im Finstern müssen seyn,
So können wir doch singen
Von Gottes Güt' und seiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Lobe zu vollbringen.
Die Thränen brachen ihr hiebey aus den Augen,
und sie mußte die Zitter weglegen, so weh war ihr
zu Muthe.

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den Ritter, der in gar lieblichen Worten zu ihr
ſprach, ganz deutlich, und hörte dazwiſchen auch den
Strom, wie über ihr, immerfort verworren drein¬
rauſchen. Darauf ſah ſie den Ritter ſich wieder auf
ſeinen Schimmel ſchwingen und ſo ſchnell in den
Wald zurückſpringen, daß der Wind hinter ihm
dreinpfiff.

Als es gegen Abend kam, ſtand ſie in ihrem
Schloſſe am Fenſter und ſchaute in das Gebirge hin¬
aus, das ſchon die graue Dämmerung zu überziehen
anfieng. Sie ſann hin und her, wer der ſchöne
Ritter ſeyn möge, aber ſie konnte nichts heraus¬
bringen. Eine niegefühlte Unruhe und Aengſtlichkeit
überfiel dabey ihre Seele, die immer mehr zunahm,
je dunkler draußen die Gegend wurde. Sie nahm
die Zitter, um ſich zu zerſtreuen. Es fiel ihr ein
altes Lied ein, das ſie als Kind oft ihren Vater
in der Nacht, wenn ſie manchmal erwachte, hatte
ſingen hören. Sie fieng an zu ſingen:

Obſchon iſt hin der Sonnenſchein
Und wir im Finſtern müſſen ſeyn,
So können wir doch ſingen
Von Gottes Güt' und ſeiner Macht,
Weil uns kann hindern keine Nacht,
Sein Lobe zu vollbringen.
Die Thränen brachen ihr hiebey aus den Augen,
und ſie mußte die Zitter weglegen, ſo weh war ihr
zu Muthe.

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[65/0071] den Ritter, der in gar lieblichen Worten zu ihr ſprach, ganz deutlich, und hörte dazwiſchen auch den Strom, wie über ihr, immerfort verworren drein¬ rauſchen. Darauf ſah ſie den Ritter ſich wieder auf ſeinen Schimmel ſchwingen und ſo ſchnell in den Wald zurückſpringen, daß der Wind hinter ihm dreinpfiff. Als es gegen Abend kam, ſtand ſie in ihrem Schloſſe am Fenſter und ſchaute in das Gebirge hin¬ aus, das ſchon die graue Dämmerung zu überziehen anfieng. Sie ſann hin und her, wer der ſchöne Ritter ſeyn möge, aber ſie konnte nichts heraus¬ bringen. Eine niegefühlte Unruhe und Aengſtlichkeit überfiel dabey ihre Seele, die immer mehr zunahm, je dunkler draußen die Gegend wurde. Sie nahm die Zitter, um ſich zu zerſtreuen. Es fiel ihr ein altes Lied ein, das ſie als Kind oft ihren Vater in der Nacht, wenn ſie manchmal erwachte, hatte ſingen hören. Sie fieng an zu ſingen: Obſchon iſt hin der Sonnenſchein Und wir im Finſtern müſſen ſeyn, So können wir doch ſingen Von Gottes Güt' und ſeiner Macht, Weil uns kann hindern keine Nacht, Sein Lobe zu vollbringen. Die Thränen brachen ihr hiebey aus den Augen, und ſie mußte die Zitter weglegen, ſo weh war ihr zu Muthe. 5

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/71>, abgerufen am 18.05.2024.