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Fabricius, Johann Andreas: Philosophische Oratorie. Leipzig, 1724.

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und derselben erfindung.
weder historie oder raisonnement. Historie ist
eine bemerckung desienigen, was unmittelbarer
weise in die sinne fällt: Raisonnement ist eine
gegeneinanderhaltung der gedancken, die man
bey der historie hat. Daß ich hier von der hi-
storie gedencke, so ist solche allezeit einerley, (ich
nehme sie aber in den allerweitläuftigsten ver-
stande) und wann sie mir unmittelbar in die
die sinne fällt, so ist sie mir unstreitig, wofern
ich nur meine sinne recht dabey gebraucht ha-
be. Hat ein ander diese sinnliche unmittel-
bare erfahrung gemacht, so ist sie ihm un-
streitig, nunmehro aber wie soll ich ihm meine
historie und erfahrung, oder er mir die seinige
unstreitig machen? Seine blosse erzehlung will
es nicht ausmachen, also muß ich dabey versi-
chert seyn, daß keine boßheit und einfalt ihn zu
dieser erzehlung verleitet. Weil aber dieses
schwer ist, so gleich zu beurtheilen, und wir es
beyde einander nicht verübeln können, wann wir
darinn zweiffelhafftig seyn, da die boßheit der
leute groß ist, so sage ich letztlich, es müsse die
sache auch so beschaffen seyn, daß iedermann die
wah[r]heit derselben, ohne weitläufftigkeit selbst
empfinden und davon die historie vermittelst
seiner eigenen sinne haben könne. Kan dieses
nicht geschehen, so wird auch die sache nimmer-
mehr auf eine sinnliche art unstreitig werden,
sondern da muß ich auf wahrscheinliche gründe
dencken, und wenn sich auch diese nachgehends
nicht finden, so ist die gantze sache falsch. Diese
anmerckung ist von grossen nutzen, und wird
dawieder überall vielfältig verstossen, also will
ich sie mit einigen exempeln erläutern z. e. Jch
sehe daß iemand ein sehr propres kleid trägt
und vieles geld verthut, daß ein anderer im
spielen filoutiret, daß ein andrer einen kuffer
mit einem nachschlüssel aussprenget die sachen

E
und derſelben erfindung.
weder hiſtorie oder raiſonnement. Hiſtorie iſt
eine bemerckung desienigen, was unmittelbarer
weiſe in die ſinne faͤllt: Raiſonnement iſt eine
gegeneinanderhaltung der gedancken, die man
bey der hiſtorie hat. Daß ich hier von der hi-
ſtorie gedencke, ſo iſt ſolche allezeit einerley, (ich
nehme ſie aber in den allerweitlaͤuftigſten ver-
ſtande) und wann ſie mir unmittelbar in die
die ſinne faͤllt, ſo iſt ſie mir unſtreitig, wofern
ich nur meine ſinne recht dabey gebraucht ha-
be. Hat ein ander dieſe ſinnliche unmittel-
bare erfahrung gemacht, ſo iſt ſie ihm un-
ſtreitig, nunmehro aber wie ſoll ich ihm meine
hiſtorie und erfahrung, oder er mir die ſeinige
unſtreitig machen? Seine bloſſe erzehlung will
es nicht ausmachen, alſo muß ich dabey verſi-
chert ſeyn, daß keine boßheit und einfalt ihn zu
dieſer erzehlung verleitet. Weil aber dieſes
ſchwer iſt, ſo gleich zu beurtheilen, und wir es
beyde einander nicht veruͤbeln koͤnnen, wann wir
darinn zweiffelhafftig ſeyn, da die boßheit der
leute groß iſt, ſo ſage ich letztlich, es muͤſſe die
ſache auch ſo beſchaffen ſeyn, daß iedermann die
wah[r]heit derſelben, ohne weitlaͤufftigkeit ſelbſt
empfinden und davon die hiſtorie vermittelſt
ſeiner eigenen ſinne haben koͤnne. Kan dieſes
nicht geſchehen, ſo wird auch die ſache nimmer-
mehr auf eine ſinnliche art unſtreitig werden,
ſondern da muß ich auf wahrſcheinliche gruͤnde
dencken, und wenn ſich auch dieſe nachgehends
nicht finden, ſo iſt die gantze ſache falſch. Dieſe
anmerckung iſt von groſſen nutzen, und wird
dawieder uͤberall vielfaͤltig verſtoſſen, alſo will
ich ſie mit einigen exempeln erlaͤutern z. e. Jch
ſehe daß iemand ein ſehr propres kleid traͤgt
und vieles geld verthut, daß ein anderer im
ſpielen filoutiret, daß ein andrer einen kuffer
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[65/0083] und derſelben erfindung. a⁾ weder hiſtorie oder raiſonnement. Hiſtorie iſt eine bemerckung desienigen, was unmittelbarer weiſe in die ſinne faͤllt: Raiſonnement iſt eine gegeneinanderhaltung der gedancken, die man bey der hiſtorie hat. Daß ich hier von der hi- ſtorie gedencke, ſo iſt ſolche allezeit einerley, (ich nehme ſie aber in den allerweitlaͤuftigſten ver- ſtande) und wann ſie mir unmittelbar in die die ſinne faͤllt, ſo iſt ſie mir unſtreitig, wofern ich nur meine ſinne recht dabey gebraucht ha- be. Hat ein ander dieſe ſinnliche unmittel- bare erfahrung gemacht, ſo iſt ſie ihm un- ſtreitig, nunmehro aber wie ſoll ich ihm meine hiſtorie und erfahrung, oder er mir die ſeinige unſtreitig machen? Seine bloſſe erzehlung will es nicht ausmachen, alſo muß ich dabey verſi- chert ſeyn, daß keine boßheit und einfalt ihn zu dieſer erzehlung verleitet. Weil aber dieſes ſchwer iſt, ſo gleich zu beurtheilen, und wir es beyde einander nicht veruͤbeln koͤnnen, wann wir darinn zweiffelhafftig ſeyn, da die boßheit der leute groß iſt, ſo ſage ich letztlich, es muͤſſe die ſache auch ſo beſchaffen ſeyn, daß iedermann die wahrheit derſelben, ohne weitlaͤufftigkeit ſelbſt empfinden und davon die hiſtorie vermittelſt ſeiner eigenen ſinne haben koͤnne. Kan dieſes nicht geſchehen, ſo wird auch die ſache nimmer- mehr auf eine ſinnliche art unſtreitig werden, ſondern da muß ich auf wahrſcheinliche gruͤnde dencken, und wenn ſich auch dieſe nachgehends nicht finden, ſo iſt die gantze ſache falſch. Dieſe anmerckung iſt von groſſen nutzen, und wird dawieder uͤberall vielfaͤltig verſtoſſen, alſo will ich ſie mit einigen exempeln erlaͤutern z. e. Jch ſehe daß iemand ein ſehr propres kleid traͤgt und vieles geld verthut, daß ein anderer im ſpielen filoutiret, daß ein andrer einen kuffer mit einem nachſchluͤſſel auſſprenget die ſachen her- E

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Zitationshilfe: Fabricius, Johann Andreas: Philosophische Oratorie. Leipzig, 1724, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fabricius_oratorie_1724/83>, abgerufen am 27.11.2024.