Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Es ist in der Geschichte der Dogmen und Speculationen,
wie in der Geschichte der Staaten. Uralte Gebräuche und In-
stitute schleppen sich mit fort, nachdem sie längst ihren Sinn
verloren. Was einmal gewesen, das will sich nicht mehr das
Recht nehmen lassen, für immer zu sein; was einmal gut war,
das will nun auch für alle Zeiten gut sein. Hinterdrein kom-
men dann die Deutler, die Speculanten und sprechen von dem
tiefen Sinne, weil sie den wahren Sinn nicht mehr kennen *).
So betrachtet auch die religiöse Speculation die Dogmen, los-
gerissen aus dem Zusammenhang, in welchem sie allein Sinn
haben; sie reducirt sie nicht kritisch auf ihren wahren innern
Ursprung; sie macht vielmehr das Secundäre zum Primitiven
und das Primitive zum Secundären. Gott ist ihr das Erste;
der Mensch das Zweite. So kehrt sie die natürliche Ordnung
der Dinge um! Das Erste ist gerade der Mensch, das Zweite
das sich gegenständliche Wesen des Menschen: Gott. Nur
in der spätern Zeit, wo die Religion bereits Fleisch und Blut
geworden, kann man sagen: wie der Gott so der Mensch, ob-
wohl auch dieser Satz immer nur eine Tautologie ausdrückt.
Aber im Ursprung ist es anders und nur im Ursprung kann
man Etwas in seinem wahren Wesen erkennen. Erst schafft
der Mensch Gott nach seinem Bilde
und dann erst schafft
wieder dieser Gott den Menschen nach seinem Bilde. Dieß

*) Aber natürlich nur bei der absoluten Religion, denn bei den andern
Religionen heben sie die uns fremden, ihrem ursprünglichen Sinn und
Zweck nach unbekannten Vorstellungen und Gebräuche als sinnlos und
lächerlich hervor. Und doch ist in der That die Verehrung des Kuhurins,
den der Parse und Indier trinkt, um Vergebung der Sünden zu erhalten,
nicht lächerlicher als die Verehrung des Haarkamms oder eines Fetzens vom
Rocke der Mutter Gottes.

Es iſt in der Geſchichte der Dogmen und Speculationen,
wie in der Geſchichte der Staaten. Uralte Gebräuche und In-
ſtitute ſchleppen ſich mit fort, nachdem ſie längſt ihren Sinn
verloren. Was einmal geweſen, das will ſich nicht mehr das
Recht nehmen laſſen, für immer zu ſein; was einmal gut war,
das will nun auch für alle Zeiten gut ſein. Hinterdrein kom-
men dann die Deutler, die Speculanten und ſprechen von dem
tiefen Sinne, weil ſie den wahren Sinn nicht mehr kennen *).
So betrachtet auch die religiöſe Speculation die Dogmen, los-
geriſſen aus dem Zuſammenhang, in welchem ſie allein Sinn
haben; ſie reducirt ſie nicht kritiſch auf ihren wahren innern
Urſprung; ſie macht vielmehr das Secundäre zum Primitiven
und das Primitive zum Secundären. Gott iſt ihr das Erſte;
der Menſch das Zweite. So kehrt ſie die natürliche Ordnung
der Dinge um! Das Erſte iſt gerade der Menſch, das Zweite
das ſich gegenſtändliche Weſen des Menſchen: Gott. Nur
in der ſpätern Zeit, wo die Religion bereits Fleiſch und Blut
geworden, kann man ſagen: wie der Gott ſo der Menſch, ob-
wohl auch dieſer Satz immer nur eine Tautologie ausdrückt.
Aber im Urſprung iſt es anders und nur im Urſprung kann
man Etwas in ſeinem wahren Weſen erkennen. Erſt ſchafft
der Menſch Gott nach ſeinem Bilde
und dann erſt ſchafft
wieder dieſer Gott den Menſchen nach ſeinem Bilde. Dieß

*) Aber natürlich nur bei der abſoluten Religion, denn bei den andern
Religionen heben ſie die uns fremden, ihrem urſprünglichen Sinn und
Zweck nach unbekannten Vorſtellungen und Gebräuche als ſinnlos und
lächerlich hervor. Und doch iſt in der That die Verehrung des Kuhurins,
den der Parſe und Indier trinkt, um Vergebung der Suͤnden zu erhalten,
nicht lächerlicher als die Verehrung des Haarkamms oder eines Fetzens vom
Rocke der Mutter Gottes.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0169" n="151"/>
          <p>Es i&#x017F;t in der Ge&#x017F;chichte der Dogmen und Speculationen,<lb/>
wie in der Ge&#x017F;chichte der Staaten. Uralte Gebräuche und In-<lb/>
&#x017F;titute &#x017F;chleppen &#x017F;ich mit fort, nachdem &#x017F;ie läng&#x017F;t ihren Sinn<lb/>
verloren. Was einmal gewe&#x017F;en, das will &#x017F;ich nicht mehr das<lb/>
Recht nehmen la&#x017F;&#x017F;en, für immer zu &#x017F;ein; was einmal gut war,<lb/>
das will nun auch für alle Zeiten gut &#x017F;ein. Hinterdrein kom-<lb/>
men dann die Deutler, die Speculanten und &#x017F;prechen von dem<lb/><hi rendition="#g">tiefen</hi> Sinne, weil &#x017F;ie den <hi rendition="#g">wahren</hi> Sinn nicht mehr kennen <note place="foot" n="*)">Aber natürlich nur bei der ab&#x017F;oluten Religion, denn bei den andern<lb/>
Religionen heben &#x017F;ie die uns fremden, ihrem ur&#x017F;prünglichen Sinn und<lb/>
Zweck nach unbekannten Vor&#x017F;tellungen und Gebräuche als &#x017F;innlos und<lb/>
lächerlich hervor. Und doch i&#x017F;t in der That die Verehrung des Kuhurins,<lb/>
den der Par&#x017F;e und Indier trinkt, um Vergebung der Su&#x0364;nden zu erhalten,<lb/>
nicht lächerlicher als die Verehrung des Haarkamms oder eines Fetzens vom<lb/>
Rocke der Mutter Gottes.</note>.<lb/>
So betrachtet auch die religiö&#x017F;e Speculation die Dogmen, los-<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en aus dem Zu&#x017F;ammenhang, in welchem &#x017F;ie allein Sinn<lb/>
haben; &#x017F;ie reducirt &#x017F;ie nicht kriti&#x017F;ch auf ihren wahren innern<lb/>
Ur&#x017F;prung; &#x017F;ie macht vielmehr das Secundäre zum Primitiven<lb/>
und das Primitive zum Secundären. Gott i&#x017F;t ihr das Er&#x017F;te;<lb/>
der Men&#x017F;ch das Zweite. So kehrt &#x017F;ie die natürliche Ordnung<lb/>
der Dinge um! Das Er&#x017F;te i&#x017F;t gerade der Men&#x017F;ch, das Zweite<lb/>
das &#x017F;ich <hi rendition="#g">gegen&#x017F;tändliche</hi> We&#x017F;en des Men&#x017F;chen: Gott. Nur<lb/>
in der &#x017F;pätern Zeit, wo die Religion bereits Flei&#x017F;ch und Blut<lb/>
geworden, kann man &#x017F;agen: wie der Gott &#x017F;o der Men&#x017F;ch, ob-<lb/>
wohl auch die&#x017F;er Satz immer nur eine Tautologie ausdrückt.<lb/>
Aber im Ur&#x017F;prung i&#x017F;t es anders und nur im Ur&#x017F;prung kann<lb/>
man Etwas in &#x017F;einem wahren We&#x017F;en erkennen. <hi rendition="#g">Er&#x017F;t &#x017F;chafft<lb/>
der Men&#x017F;ch Gott nach &#x017F;einem Bilde</hi> und dann er&#x017F;t &#x017F;chafft<lb/>
wieder die&#x017F;er Gott den Men&#x017F;chen nach &#x017F;einem Bilde. Dieß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[151/0169] Es iſt in der Geſchichte der Dogmen und Speculationen, wie in der Geſchichte der Staaten. Uralte Gebräuche und In- ſtitute ſchleppen ſich mit fort, nachdem ſie längſt ihren Sinn verloren. Was einmal geweſen, das will ſich nicht mehr das Recht nehmen laſſen, für immer zu ſein; was einmal gut war, das will nun auch für alle Zeiten gut ſein. Hinterdrein kom- men dann die Deutler, die Speculanten und ſprechen von dem tiefen Sinne, weil ſie den wahren Sinn nicht mehr kennen *). So betrachtet auch die religiöſe Speculation die Dogmen, los- geriſſen aus dem Zuſammenhang, in welchem ſie allein Sinn haben; ſie reducirt ſie nicht kritiſch auf ihren wahren innern Urſprung; ſie macht vielmehr das Secundäre zum Primitiven und das Primitive zum Secundären. Gott iſt ihr das Erſte; der Menſch das Zweite. So kehrt ſie die natürliche Ordnung der Dinge um! Das Erſte iſt gerade der Menſch, das Zweite das ſich gegenſtändliche Weſen des Menſchen: Gott. Nur in der ſpätern Zeit, wo die Religion bereits Fleiſch und Blut geworden, kann man ſagen: wie der Gott ſo der Menſch, ob- wohl auch dieſer Satz immer nur eine Tautologie ausdrückt. Aber im Urſprung iſt es anders und nur im Urſprung kann man Etwas in ſeinem wahren Weſen erkennen. Erſt ſchafft der Menſch Gott nach ſeinem Bilde und dann erſt ſchafft wieder dieſer Gott den Menſchen nach ſeinem Bilde. Dieß *) Aber natürlich nur bei der abſoluten Religion, denn bei den andern Religionen heben ſie die uns fremden, ihrem urſprünglichen Sinn und Zweck nach unbekannten Vorſtellungen und Gebräuche als ſinnlos und lächerlich hervor. Und doch iſt in der That die Verehrung des Kuhurins, den der Parſe und Indier trinkt, um Vergebung der Suͤnden zu erhalten, nicht lächerlicher als die Verehrung des Haarkamms oder eines Fetzens vom Rocke der Mutter Gottes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/169
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/169>, abgerufen am 04.12.2024.