Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Wesen -- nothwendig, weil das Wesen der Theorie außer
ihm liegt, weil all sein bewußtes Wesen aufgeht in die
praktische Subjectivität. Gott ist sein Alter Ego, seine
andere verlorne Hälfte; in Gott ergänzt er sich; in Gott ist
er erst vollkommner Mensch. Gott ist ihm ein Bedürfniß;
es fehlt ihm Etwas, ohne zu wissen, was ihm fehlt -- Gott
ist dieses fehlende Etwas, Gott ihm unentbehrlich; Gott
gehört zu seinem Wesen. Die Welt ist der Religion
Nichts *) -- die Welt, die nichts andres ist als der Inbegriff
der Wirklichkeit, in ihrer Herrlichkeit offenbart nur die
Theorie; die theoretischen Freuden sind die schönsten intel-
lectuellen Lebensfreuden, aber die Religion weiß nichts von
den Freuden des Denkers, nichts von den Freuden des Natur-
forschers. Ihr fehlt die Anschauung des Universums, das
Bewußtsein des wirklichen Unendlichen, das Bewußtsein der
Gattung. Nur in Gott ergänzt sie den Mangel des Lebens,
den Mangel eines wesenhaften Inhalts, den in unendlicher
Fülle das wirkliche Leben den offnen Augen des schaulustigen
Theoretikers darbietet. Gott ist ihr der Ersatz der verlornen
Welt
-- Gott ist ihr die reine Anschauung, das Leben der
Theorie
.

Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom
Egoismus befleckte Anschauung. Ich verhalte mich hier zu
einem Dinge nur um meinetwillen. Um sein selbst willen
schaue ich es nicht an; es ist mir vielmehr im Grunde ein ver-
ächtliches Ding, wie ein Weib, das nur um des sinnlichen

*) Man könnte dagegen die bekannte Stelle im ersten Capitel des Rö-
merbriefes anführen. Aber auf die Einwürfe der theologischen Bibelstellen-
gelehrsamkeit ist es nicht der Mühe werth zu antworten.

Weſen — nothwendig, weil das Weſen der Theorie außer
ihm liegt, weil all ſein bewußtes Weſen aufgeht in die
praktiſche Subjectivität. Gott iſt ſein Alter Ego, ſeine
andere verlorne Hälfte; in Gott ergänzt er ſich; in Gott iſt
er erſt vollkommner Menſch. Gott iſt ihm ein Bedürfniß;
es fehlt ihm Etwas, ohne zu wiſſen, was ihm fehlt — Gott
iſt dieſes fehlende Etwas, Gott ihm unentbehrlich; Gott
gehört zu ſeinem Weſen. Die Welt iſt der Religion
Nichts *) — die Welt, die nichts andres iſt als der Inbegriff
der Wirklichkeit, in ihrer Herrlichkeit offenbart nur die
Theorie; die theoretiſchen Freuden ſind die ſchönſten intel-
lectuellen Lebensfreuden, aber die Religion weiß nichts von
den Freuden des Denkers, nichts von den Freuden des Natur-
forſchers. Ihr fehlt die Anſchauung des Univerſums, das
Bewußtſein des wirklichen Unendlichen, das Bewußtſein der
Gattung. Nur in Gott ergänzt ſie den Mangel des Lebens,
den Mangel eines weſenhaften Inhalts, den in unendlicher
Fülle das wirkliche Leben den offnen Augen des ſchauluſtigen
Theoretikers darbietet. Gott iſt ihr der Erſatz der verlornen
Welt
— Gott iſt ihr die reine Anſchauung, das Leben der
Theorie
.

Die praktiſche Anſchauung iſt eine ſchmutzige, vom
Egoismus befleckte Anſchauung. Ich verhalte mich hier zu
einem Dinge nur um meinetwillen. Um ſein ſelbſt willen
ſchaue ich es nicht an; es iſt mir vielmehr im Grunde ein ver-
ächtliches Ding, wie ein Weib, das nur um des ſinnlichen

*) Man könnte dagegen die bekannte Stelle im erſten Capitel des Rö-
merbriefes anführen. Aber auf die Einwürfe der theologiſchen Bibelſtellen-
gelehrſamkeit iſt es nicht der Mühe werth zu antworten.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0282" n="264"/>
We&#x017F;en</hi> &#x2014; nothwendig, weil das We&#x017F;en der Theorie außer<lb/>
ihm liegt, weil all &#x017F;ein <hi rendition="#g">bewußtes</hi> We&#x017F;en aufgeht in die<lb/>
prakti&#x017F;che Subjectivität. Gott i&#x017F;t &#x017F;ein <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Alter</hi> Ego,</hi> &#x017F;eine<lb/>
andere verlorne Hälfte; in <hi rendition="#g">Gott ergänzt</hi> er <hi rendition="#g">&#x017F;ich</hi>; in Gott i&#x017F;t<lb/>
er er&#x017F;t <hi rendition="#g">vollkommner</hi> Men&#x017F;ch. Gott i&#x017F;t ihm ein <hi rendition="#g">Bedürfniß</hi>;<lb/>
es fehlt ihm Etwas, ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en, was ihm fehlt &#x2014; Gott<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;es <hi rendition="#g">fehlende Etwas</hi>, Gott ihm unentbehrlich; Gott<lb/><hi rendition="#g">gehört</hi> zu &#x017F;einem <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi>. Die Welt i&#x017F;t der Religion<lb/>
Nichts <note place="foot" n="*)">Man könnte dagegen die bekannte Stelle im er&#x017F;ten Capitel des Rö-<lb/>
merbriefes anführen. Aber auf die Einwürfe der theologi&#x017F;chen Bibel&#x017F;tellen-<lb/>
gelehr&#x017F;amkeit i&#x017F;t es nicht der Mühe werth zu antworten.</note> &#x2014; die Welt, die nichts andres i&#x017F;t als der Inbegriff<lb/>
der Wirklichkeit, in ihrer Herrlichkeit <hi rendition="#g">offenbart</hi> nur die<lb/><hi rendition="#g">Theorie</hi>; die <hi rendition="#g">theoreti&#x017F;chen</hi> Freuden &#x017F;ind die &#x017F;chön&#x017F;ten intel-<lb/>
lectuellen Lebensfreuden, aber die Religion weiß nichts von<lb/>
den Freuden des Denkers, nichts von den Freuden des Natur-<lb/>
for&#x017F;chers. Ihr fehlt die An&#x017F;chauung des <hi rendition="#g">Univer&#x017F;ums</hi>, das<lb/>
Bewußt&#x017F;ein des <hi rendition="#g">wirklichen</hi> Unendlichen, das Bewußt&#x017F;ein der<lb/>
Gattung. Nur in Gott ergänzt &#x017F;ie den Mangel des Lebens,<lb/>
den Mangel eines we&#x017F;enhaften Inhalts, den in unendlicher<lb/>
Fülle das wirkliche Leben den offnen Augen des &#x017F;chaulu&#x017F;tigen<lb/>
Theoretikers darbietet. Gott i&#x017F;t ihr der Er&#x017F;atz der <hi rendition="#g">verlornen<lb/>
Welt</hi> &#x2014; Gott i&#x017F;t ihr die <hi rendition="#g">reine</hi> An&#x017F;chauung, das <hi rendition="#g">Leben der<lb/>
Theorie</hi>.</p><lb/>
          <p>Die prakti&#x017F;che An&#x017F;chauung i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">&#x017F;chmutzige</hi>, vom<lb/>
Egoismus befleckte An&#x017F;chauung. Ich verhalte mich hier zu<lb/>
einem Dinge nur um meinetwillen. Um &#x017F;ein &#x017F;elb&#x017F;t willen<lb/>
&#x017F;chaue ich es nicht an; es i&#x017F;t mir vielmehr im Grunde ein ver-<lb/>
ächtliches Ding, wie ein Weib, das nur um des &#x017F;innlichen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[264/0282] Weſen — nothwendig, weil das Weſen der Theorie außer ihm liegt, weil all ſein bewußtes Weſen aufgeht in die praktiſche Subjectivität. Gott iſt ſein Alter Ego, ſeine andere verlorne Hälfte; in Gott ergänzt er ſich; in Gott iſt er erſt vollkommner Menſch. Gott iſt ihm ein Bedürfniß; es fehlt ihm Etwas, ohne zu wiſſen, was ihm fehlt — Gott iſt dieſes fehlende Etwas, Gott ihm unentbehrlich; Gott gehört zu ſeinem Weſen. Die Welt iſt der Religion Nichts *) — die Welt, die nichts andres iſt als der Inbegriff der Wirklichkeit, in ihrer Herrlichkeit offenbart nur die Theorie; die theoretiſchen Freuden ſind die ſchönſten intel- lectuellen Lebensfreuden, aber die Religion weiß nichts von den Freuden des Denkers, nichts von den Freuden des Natur- forſchers. Ihr fehlt die Anſchauung des Univerſums, das Bewußtſein des wirklichen Unendlichen, das Bewußtſein der Gattung. Nur in Gott ergänzt ſie den Mangel des Lebens, den Mangel eines weſenhaften Inhalts, den in unendlicher Fülle das wirkliche Leben den offnen Augen des ſchauluſtigen Theoretikers darbietet. Gott iſt ihr der Erſatz der verlornen Welt — Gott iſt ihr die reine Anſchauung, das Leben der Theorie. Die praktiſche Anſchauung iſt eine ſchmutzige, vom Egoismus befleckte Anſchauung. Ich verhalte mich hier zu einem Dinge nur um meinetwillen. Um ſein ſelbſt willen ſchaue ich es nicht an; es iſt mir vielmehr im Grunde ein ver- ächtliches Ding, wie ein Weib, das nur um des ſinnlichen *) Man könnte dagegen die bekannte Stelle im erſten Capitel des Rö- merbriefes anführen. Aber auf die Einwürfe der theologiſchen Bibelſtellen- gelehrſamkeit iſt es nicht der Mühe werth zu antworten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/282
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/282>, abgerufen am 05.12.2024.