Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Genusses willen Gegenstand ist. Die praktische Anschauung
ist eine nicht in sich befriedigte Anschauung, denn ich ver-
halte mich hier zu einem mir nicht ebenbürtigen Gegenstand.
Die theoretische Anschauung dagegen ist eine freudenvolle,
in sich befriedigte, selige
Anschauung, denn ihr ist der
Gegenstand ein Gegenstand der Liebe und Bewunderung,
er strahlt im Lichte der freien Intelligenz wunderherrlich, wie ein
Diamant, durchsichtig, wie ein Bergkrystall; die Anschauung
der Theorie ist eine ästhetische Anschauung; die praktische
dagegen eine unästhetische. Die Religion ergänzt daher in
Gott den Mangel der ästhetischen Anschauung. Nich-
tig ist ihr die Welt für sich selbst, die Bewunderung, die An-
schauung derselben Götzendienst; denn die Welt ist ihr ein blo-
ßes Gemächte *). Gott ist ihr daher die reine unbeschmutzte, d. i.
theoretische oder ästhetische Anschauung. Gott ist das Object,
zu dem sich der religiöse Mensch objectiv verhält; in Gott ist
ihm der Gegenstand um sein selbst willen Gegenstand.
Gott ist Selbstzweck; Gott hat also für die Religion in specie
die Bedeutung, welche für die Theorie der Gegenstand über-
haupt hat. Das allgemeine Wesen der Theorie ist der
Religion ein besonderes Wesen. Allerdings bezieht sich in
der Religion der Mensch in der Beziehung auf Gott wie-
der auf seine Bedürfnisse sowohl im höhern als niedern
Sinne: "gib uns unser tägliches Brot;" aber Gott kann nur
alle Bedürfnisse des Menschen befriedigen, weil er selbst für
sich kein Bedürfniß hat -- die bedürfnißlose Seligkeit ist.


*) Pulchras formas et varias, nitidos et amoenos colores amant
oculi. Non teneant haec animam meam; teneat eam Deus qui haec
fecit
, bona quidem valde, sed ipse est bonum meum, non haec.
Augustin
. Confess. 1. X. c. 34.

Genuſſes willen Gegenſtand iſt. Die praktiſche Anſchauung
iſt eine nicht in ſich befriedigte Anſchauung, denn ich ver-
halte mich hier zu einem mir nicht ebenbürtigen Gegenſtand.
Die theoretiſche Anſchauung dagegen iſt eine freudenvolle,
in ſich befriedigte, ſelige
Anſchauung, denn ihr iſt der
Gegenſtand ein Gegenſtand der Liebe und Bewunderung,
er ſtrahlt im Lichte der freien Intelligenz wunderherrlich, wie ein
Diamant, durchſichtig, wie ein Bergkryſtall; die Anſchauung
der Theorie iſt eine äſthetiſche Anſchauung; die praktiſche
dagegen eine unäſthetiſche. Die Religion ergänzt daher in
Gott den Mangel der äſthetiſchen Anſchauung. Nich-
tig iſt ihr die Welt für ſich ſelbſt, die Bewunderung, die An-
ſchauung derſelben Götzendienſt; denn die Welt iſt ihr ein blo-
ßes Gemächte *). Gott iſt ihr daher die reine unbeſchmutzte, d. i.
theoretiſche oder äſthetiſche Anſchauung. Gott iſt das Object,
zu dem ſich der religiöſe Menſch objectiv verhält; in Gott iſt
ihm der Gegenſtand um ſein ſelbſt willen Gegenſtand.
Gott iſt Selbſtzweck; Gott hat alſo für die Religion in specie
die Bedeutung, welche für die Theorie der Gegenſtand über-
haupt hat. Das allgemeine Weſen der Theorie iſt der
Religion ein beſonderes Weſen. Allerdings bezieht ſich in
der Religion der Menſch in der Beziehung auf Gott wie-
der auf ſeine Bedürfniſſe ſowohl im höhern als niedern
Sinne: „gib uns unſer tägliches Brot;“ aber Gott kann nur
alle Bedürfniſſe des Menſchen befriedigen, weil er ſelbſt für
ſich kein Bedürfniß hat — die bedürfnißloſe Seligkeit iſt.


*) Pulchras formas et varias, nitidos et amoenos colores amant
oculi. Non teneant haec animam meam; teneat eam Deus qui haec
fecit
, bona quidem valde, sed ipse est bonum meum, non haec.
Augustin
. Confess. 1. X. c. 34.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0283" n="265"/>
Genu&#x017F;&#x017F;es willen Gegen&#x017F;tand i&#x017F;t. Die prakti&#x017F;che An&#x017F;chauung<lb/>
i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">nicht in &#x017F;ich befriedigte</hi> An&#x017F;chauung, denn ich ver-<lb/>
halte mich hier zu einem mir nicht ebenbürtigen Gegen&#x017F;tand.<lb/>
Die theoreti&#x017F;che An&#x017F;chauung dagegen i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">freudenvolle,<lb/>
in &#x017F;ich befriedigte, &#x017F;elige</hi> An&#x017F;chauung, denn ihr i&#x017F;t der<lb/>
Gegen&#x017F;tand ein Gegen&#x017F;tand der <hi rendition="#g">Liebe</hi> und <hi rendition="#g">Bewunderung</hi>,<lb/>
er &#x017F;trahlt im Lichte der freien Intelligenz wunderherrlich, wie ein<lb/>
Diamant, durch&#x017F;ichtig, wie ein Bergkry&#x017F;tall; die An&#x017F;chauung<lb/>
der Theorie i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">ä&#x017F;theti&#x017F;che</hi> An&#x017F;chauung; die prakti&#x017F;che<lb/>
dagegen eine <hi rendition="#g">unä&#x017F;theti&#x017F;che</hi>. Die Religion ergänzt daher in<lb/><hi rendition="#g">Gott den Mangel der ä&#x017F;theti&#x017F;chen An&#x017F;chauung</hi>. Nich-<lb/>
tig i&#x017F;t ihr die Welt für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, die Bewunderung, die An-<lb/>
&#x017F;chauung der&#x017F;elben <hi rendition="#g">Götzendien&#x017F;t</hi>; denn die Welt i&#x017F;t ihr ein blo-<lb/>
ßes Gemächte <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Pulchras formas et varias, nitidos et amoenos colores amant<lb/>
oculi. Non teneant haec animam meam; <hi rendition="#g">teneat eam Deus qui haec<lb/>
fecit</hi>, bona quidem valde, sed <hi rendition="#g">ipse</hi> est <hi rendition="#g">bonum meum, non haec.<lb/>
Augustin</hi>. Confess. 1. X. c. 34.</hi></note>. Gott i&#x017F;t ihr daher die reine unbe&#x017F;chmutzte, d. i.<lb/>
theoreti&#x017F;che oder ä&#x017F;theti&#x017F;che An&#x017F;chauung. Gott i&#x017F;t das Object,<lb/>
zu dem &#x017F;ich der religiö&#x017F;e Men&#x017F;ch <hi rendition="#g">objectiv</hi> verhält; in Gott i&#x017F;t<lb/>
ihm der <hi rendition="#g">Gegen&#x017F;tand um &#x017F;ein &#x017F;elb&#x017F;t willen</hi> Gegen&#x017F;tand.<lb/>
Gott i&#x017F;t Selb&#x017F;tzweck; Gott hat al&#x017F;o für die Religion <hi rendition="#aq">in specie</hi><lb/><hi rendition="#g">die</hi> Bedeutung, welche für die Theorie der Gegen&#x017F;tand über-<lb/>
haupt hat. Das <hi rendition="#g">allgemeine We&#x017F;en der Theorie</hi> i&#x017F;t der<lb/>
Religion ein <hi rendition="#g">be&#x017F;onderes</hi> We&#x017F;en. Allerdings bezieht &#x017F;ich in<lb/>
der Religion der Men&#x017F;ch in der Beziehung auf Gott wie-<lb/>
der auf &#x017F;eine Bedürfni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;owohl im höhern als niedern<lb/>
Sinne: &#x201E;gib uns un&#x017F;er tägliches Brot;&#x201C; aber Gott kann nur<lb/>
alle Bedürfni&#x017F;&#x017F;e des Men&#x017F;chen befriedigen, weil er &#x017F;elb&#x017F;t für<lb/>
&#x017F;ich kein Bedürfniß hat &#x2014; die bedürfnißlo&#x017F;e Seligkeit i&#x017F;t.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0283] Genuſſes willen Gegenſtand iſt. Die praktiſche Anſchauung iſt eine nicht in ſich befriedigte Anſchauung, denn ich ver- halte mich hier zu einem mir nicht ebenbürtigen Gegenſtand. Die theoretiſche Anſchauung dagegen iſt eine freudenvolle, in ſich befriedigte, ſelige Anſchauung, denn ihr iſt der Gegenſtand ein Gegenſtand der Liebe und Bewunderung, er ſtrahlt im Lichte der freien Intelligenz wunderherrlich, wie ein Diamant, durchſichtig, wie ein Bergkryſtall; die Anſchauung der Theorie iſt eine äſthetiſche Anſchauung; die praktiſche dagegen eine unäſthetiſche. Die Religion ergänzt daher in Gott den Mangel der äſthetiſchen Anſchauung. Nich- tig iſt ihr die Welt für ſich ſelbſt, die Bewunderung, die An- ſchauung derſelben Götzendienſt; denn die Welt iſt ihr ein blo- ßes Gemächte *). Gott iſt ihr daher die reine unbeſchmutzte, d. i. theoretiſche oder äſthetiſche Anſchauung. Gott iſt das Object, zu dem ſich der religiöſe Menſch objectiv verhält; in Gott iſt ihm der Gegenſtand um ſein ſelbſt willen Gegenſtand. Gott iſt Selbſtzweck; Gott hat alſo für die Religion in specie die Bedeutung, welche für die Theorie der Gegenſtand über- haupt hat. Das allgemeine Weſen der Theorie iſt der Religion ein beſonderes Weſen. Allerdings bezieht ſich in der Religion der Menſch in der Beziehung auf Gott wie- der auf ſeine Bedürfniſſe ſowohl im höhern als niedern Sinne: „gib uns unſer tägliches Brot;“ aber Gott kann nur alle Bedürfniſſe des Menſchen befriedigen, weil er ſelbſt für ſich kein Bedürfniß hat — die bedürfnißloſe Seligkeit iſt. *) Pulchras formas et varias, nitidos et amoenos colores amant oculi. Non teneant haec animam meam; teneat eam Deus qui haec fecit, bona quidem valde, sed ipse est bonum meum, non haec. Augustin. Confess. 1. X. c. 34.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/283
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/283>, abgerufen am 05.12.2024.