Geschichte der Einzelnen. Der Mensch verlegt sein Wesen zu- erst außer sich, ehe er es in sich findet. Das eigne Wesen ist ihm zuerst als ein andres Wesen Gegenstand. Der geschicht- liche Fortgang in den Religionen besteht deßwegen darin, daß das, was der frühern Religion für etwas Objectives galt, als etwas Subjectives, d. h. was als Gott angeschaut und an- gebetet wurde, jetzt als etwas Menschliches erkannt wird. Die frühere Religion ist der spätern Götzendienst: der Mensch hat sein eignes Wesen angebetet. Der Mensch hat sich ver- objectivirt, aber den Gegenstand nicht als sein Wesen erkannt; die spätere Religion thut diesen Schritt. Jeder Fortschritt in der Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntniß. Aber jede bestimmte Religion, die ihre ältern Schwestern als Götzendie- nerinnen bezeichnet, nimmt sich selbst -- und zwar nothwen- dig, sonst wäre sie nicht mehr Religion -- von dem Schick- sal, dem allgemeinen Wesen der Religion aus; sie schiebt nur auf die andern Religionen, was doch -- wenn an- ders Schuld -- die Schuld der Religion überhaupt ist. Weil sie einen andern Gegenstand, einen andern Inhalt hat, weil sie über den Inhalt der frühern sich erhoben, wähnt sie sich er- haben über die nothwendigen und ewigen Gesetze, die das Wesen der Religion constituiren, wähnt sie, daß ihr Gegen- stand, ihr Inhalt ein übermenschlicher sei. Aber dafür durch- schaut das ihr selbst verborgne Wesen der Religion der Denker, dem die Religion Gegenstand ist, was sich selbst die Religion nicht sein kann. Und unsre Aufgabe ist es eben, nachzuweisen, daß der Gegensatz des Göttlichen und Mensch- lichen ein durchaus illusorischer, daß folglich auch der Gegen- stand und Inhalt der christlichen Religion ein durchaus mensch- licher ist.
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Geſchichte der Einzelnen. Der Menſch verlegt ſein Weſen zu- erſt außer ſich, ehe er es in ſich findet. Das eigne Weſen iſt ihm zuerſt als ein andres Weſen Gegenſtand. Der geſchicht- liche Fortgang in den Religionen beſteht deßwegen darin, daß das, was der frühern Religion für etwas Objectives galt, als etwas Subjectives, d. h. was als Gott angeſchaut und an- gebetet wurde, jetzt als etwas Menſchliches erkannt wird. Die frühere Religion iſt der ſpätern Götzendienſt: der Menſch hat ſein eignes Weſen angebetet. Der Menſch hat ſich ver- objectivirt, aber den Gegenſtand nicht als ſein Weſen erkannt; die ſpätere Religion thut dieſen Schritt. Jeder Fortſchritt in der Religion iſt daher eine tiefere Selbſterkenntniß. Aber jede beſtimmte Religion, die ihre ältern Schweſtern als Götzendie- nerinnen bezeichnet, nimmt ſich ſelbſt — und zwar nothwen- dig, ſonſt wäre ſie nicht mehr Religion — von dem Schick- ſal, dem allgemeinen Weſen der Religion aus; ſie ſchiebt nur auf die andern Religionen, was doch — wenn an- ders Schuld — die Schuld der Religion überhaupt iſt. Weil ſie einen andern Gegenſtand, einen andern Inhalt hat, weil ſie über den Inhalt der frühern ſich erhoben, wähnt ſie ſich er- haben über die nothwendigen und ewigen Geſetze, die das Weſen der Religion conſtituiren, wähnt ſie, daß ihr Gegen- ſtand, ihr Inhalt ein übermenſchlicher ſei. Aber dafür durch- ſchaut das ihr ſelbſt verborgne Weſen der Religion der Denker, dem die Religion Gegenſtand iſt, was ſich ſelbſt die Religion nicht ſein kann. Und unſre Aufgabe iſt es eben, nachzuweiſen, daß der Gegenſatz des Göttlichen und Menſch- lichen ein durchaus illuſoriſcher, daß folglich auch der Gegen- ſtand und Inhalt der chriſtlichen Religion ein durchaus menſch- licher iſt.
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Geſchichte der Einzelnen. Der Menſch verlegt ſein Weſen zu-
erſt außer ſich, ehe er es in ſich findet. Das eigne Weſen iſt
ihm zuerſt als ein andres Weſen Gegenſtand. Der geſchicht-
liche Fortgang in den Religionen beſteht deßwegen darin, daß
das, was der frühern Religion für etwas Objectives galt, als
etwas Subjectives, d. h. was als Gott angeſchaut und an-
gebetet wurde, jetzt als etwas Menſchliches erkannt wird.
Die frühere Religion iſt der ſpätern Götzendienſt: der Menſch
hat ſein eignes Weſen angebetet. Der Menſch hat ſich ver-
objectivirt, aber den Gegenſtand nicht als ſein Weſen erkannt;
die ſpätere Religion thut dieſen Schritt. Jeder Fortſchritt in
der Religion iſt daher eine tiefere Selbſterkenntniß. Aber jede
beſtimmte Religion, die ihre ältern Schweſtern als Götzendie-
nerinnen bezeichnet, nimmt ſich ſelbſt — und zwar nothwen-
dig, ſonſt wäre ſie nicht mehr Religion — von dem Schick-
ſal, dem allgemeinen Weſen der Religion aus; ſie ſchiebt
nur auf die andern Religionen, was doch — wenn an-
ders Schuld — die Schuld der Religion überhaupt iſt. Weil
ſie einen andern Gegenſtand, einen andern Inhalt hat, weil
ſie über den Inhalt der frühern ſich erhoben, wähnt ſie ſich er-
haben über die nothwendigen und ewigen Geſetze, die das
Weſen der Religion conſtituiren, wähnt ſie, daß ihr Gegen-
ſtand, ihr Inhalt ein übermenſchlicher ſei. Aber dafür durch-
ſchaut das ihr ſelbſt verborgne Weſen der Religion der
Denker, dem die Religion Gegenſtand iſt, was ſich ſelbſt die
Religion nicht ſein kann. Und unſre Aufgabe iſt es eben,
nachzuweiſen, daß der Gegenſatz des Göttlichen und Menſch-
lichen ein durchaus illuſoriſcher, daß folglich auch der Gegen-
ſtand und Inhalt der chriſtlichen Religion ein durchaus menſch-
licher iſt.
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/37>, abgerufen am 25.11.2024.
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