ohne Liebe kommen. Hätte das Christenthum nur die Liebe zum Gesetze gemacht, so hätten die Anhänger des- selben recht, man könnte ihm die Greuelthaten der christlichen Religionsgeschichte nicht als Schuld anrechnen; hätte es nur den Glauben zum Gesetz gemacht, so wären die Vorwürfe der Ungläubigen unbedingt, ohne Einschränkung wahr. Das Christenthum hat die Liebe nicht frei gegeben; sich nicht zu der Höhe erhoben, die Liebe absolut zu fassen. Und es hat diese Freiheit nicht gehabt, nicht haben können, weil es Religion ist -- die Liebe daher der Herrschaft des Glau- bens unterworfen. Die Liebe ist nur die exoterische, der Glaube die esoterische Lehre des Christenthums -- die Liebe nur die Moral, der Glaube aber die Religion der christlichen Religion.
Gott ist die Liebe. Dieser Satz ist der höchste des Chri- stenthums. Aber der Widerspruch des Glaubens und der Liebe ist schon in diesem Satze enthalten. Die Liebe ist nur ein Prädicat, Gott das Subject. Was ist aber dieses Sub- ject im Unterschiede von der Liebe? Und ich muß doch nothwendig so fragen, so unterscheiden. Die Nothwendig- keit der Unterscheidung wäre nur aufgehoben, wenn es umge- kehrt hieße: die Liebe ist Gott, die Liebe das absolute Wesen. So bekäme die Liebe die Stellung der Substanz. In dem Satze: "Gott ist die Liebe" ist das Subject das Dunkel, hinter welches der Glaube sich versteckt; das Prä- dicat das Licht, das erst das an sich dunkle Subject erhellt. Im Prädicat bethätige ich die Liebe, im Subject den Glauben. Die Liebe füllt nicht allein meinen Geist aus: ich lasse einen Platz für meine Lieblosigkeit offen, indem ich Gott als Subject denke im Unterschied vom Prädi-
ohne Liebe kommen. Hätte das Chriſtenthum nur die Liebe zum Geſetze gemacht, ſo hätten die Anhänger deſ- ſelben recht, man könnte ihm die Greuelthaten der chriſtlichen Religionsgeſchichte nicht als Schuld anrechnen; hätte es nur den Glauben zum Geſetz gemacht, ſo wären die Vorwürfe der Ungläubigen unbedingt, ohne Einſchränkung wahr. Das Chriſtenthum hat die Liebe nicht frei gegeben; ſich nicht zu der Höhe erhoben, die Liebe abſolut zu faſſen. Und es hat dieſe Freiheit nicht gehabt, nicht haben können, weil es Religion iſt — die Liebe daher der Herrſchaft des Glau- bens unterworfen. Die Liebe iſt nur die exoteriſche, der Glaube die eſoteriſche Lehre des Chriſtenthums — die Liebe nur die Moral, der Glaube aber die Religion der chriſtlichen Religion.
Gott iſt die Liebe. Dieſer Satz iſt der höchſte des Chri- ſtenthums. Aber der Widerſpruch des Glaubens und der Liebe iſt ſchon in dieſem Satze enthalten. Die Liebe iſt nur ein Prädicat, Gott das Subject. Was iſt aber dieſes Sub- ject im Unterſchiede von der Liebe? Und ich muß doch nothwendig ſo fragen, ſo unterſcheiden. Die Nothwendig- keit der Unterſcheidung wäre nur aufgehoben, wenn es umge- kehrt hieße: die Liebe iſt Gott, die Liebe das abſolute Weſen. So bekäme die Liebe die Stellung der Subſtanz. In dem Satze: „Gott iſt die Liebe“ iſt das Subject das Dunkel, hinter welches der Glaube ſich verſteckt; das Prä- dicat das Licht, das erſt das an ſich dunkle Subject erhellt. Im Prädicat bethätige ich die Liebe, im Subject den Glauben. Die Liebe füllt nicht allein meinen Geiſt aus: ich laſſe einen Platz für meine Liebloſigkeit offen, indem ich Gott als Subject denke im Unterſchied vom Prädi-
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ohne Liebe kommen. Hätte das Chriſtenthum nur die
Liebe zum Geſetze gemacht, ſo hätten die Anhänger deſ-
ſelben recht, man könnte ihm die Greuelthaten der chriſtlichen
Religionsgeſchichte nicht als Schuld anrechnen; hätte es nur
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der Ungläubigen unbedingt, ohne Einſchränkung wahr.
Das Chriſtenthum hat die Liebe nicht frei gegeben; ſich nicht
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es hat dieſe Freiheit nicht gehabt, nicht haben können, weil es
Religion iſt — die Liebe daher der Herrſchaft des Glau-
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chriſtlichen Religion.
Gott iſt die Liebe. Dieſer Satz iſt der höchſte des Chri-
ſtenthums. Aber der Widerſpruch des Glaubens und der
Liebe iſt ſchon in dieſem Satze enthalten. Die Liebe iſt nur
ein Prädicat, Gott das Subject. Was iſt aber dieſes Sub-
ject im Unterſchiede von der Liebe? Und ich muß doch
nothwendig ſo fragen, ſo unterſcheiden. Die Nothwendig-
keit der Unterſcheidung wäre nur aufgehoben, wenn es umge-
kehrt hieße: die Liebe iſt Gott, die Liebe das abſolute
Weſen. So bekäme die Liebe die Stellung der Subſtanz.
In dem Satze: „Gott iſt die Liebe“ iſt das Subject das
Dunkel, hinter welches der Glaube ſich verſteckt; das Prä-
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Im Prädicat bethätige ich die Liebe, im Subject den
Glauben. Die Liebe füllt nicht allein meinen Geiſt aus:
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/378>, abgerufen am 05.12.2024.
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