Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Aber solche Liebe, ist sie nicht eine chimärische Liebe? Kann ich
über den Begriff der Gattung hinaus? Höheres lieben als die
Menschheit? Was Christus adelte, war die Liebe; was er war,
hat er von ihr nur zu Lehen bekommen; er war nicht Pro-
prietär
der Liebe, wie er dieß in allen superstitiösen Vorstel-
lungen ist. Der Begriff der Liebe ist ein selbstständiger Be-
griff, den ich nicht erst aus dem Leben Christi abstrahire; im
Gegentheil ich anerkenne dieses Leben nur, weil und wenn
ich es übereinstimmend finde mit dem Gesetze, dem Begriffe
der Liebe.

Historisch ist dieß schon dadurch erwiesen, daß die Idee
der Liebe keineswegs nur mit dem Christenthum und durch
dasselbe in das Bewußtsein der Menschheit erst kam, keines-
wegs eine nur christliche ist. Sinnvoll gehen der Erscheinung
dieser Idee die Greuel des römischen Reichs zur Seite. Das
Reich der Politik, das die Menschheit auf eine ihrem Begriffe
widersprechende Weise vereinte, mußte in sich zerfallen. Die
politische Einheit ist eine gewaltsame. Roms Despotismus
mußte sich nach Innen wenden, sich selbst zerstören. Aber
eben durch dieses Elend der Politik zog sich der Mensch ganz
aus der herzzerdrückenden Schlinge der Politik heraus. An
die Stelle Roms trat der Begriff der Menschheit, damit an
die Stelle des Begriffs der Herrschaft der Begriff der Liebe.
Selbst die Juden hatten in dem Humanitätsprincip der grie-
chischen Bildung ihren gehässigen religiösen Separatismus
gemildert. Philo feiert die Liebe als die höchste Tugend. Es
lag im Begriffe der Menschheit selbst, daß die nationellen Dif-
ferenzen gelöst wurden. Der denkende Geist hatte schon frühe
die civilistischen und politischen Trennungen des Menschen
vom Menschen überwunden. Aristoteles unterscheidet wohl den

Aber ſolche Liebe, iſt ſie nicht eine chimäriſche Liebe? Kann ich
über den Begriff der Gattung hinaus? Höheres lieben als die
Menſchheit? Was Chriſtus adelte, war die Liebe; was er war,
hat er von ihr nur zu Lehen bekommen; er war nicht Pro-
prietär
der Liebe, wie er dieß in allen ſuperſtitiöſen Vorſtel-
lungen iſt. Der Begriff der Liebe iſt ein ſelbſtſtändiger Be-
griff, den ich nicht erſt aus dem Leben Chriſti abſtrahire; im
Gegentheil ich anerkenne dieſes Leben nur, weil und wenn
ich es übereinſtimmend finde mit dem Geſetze, dem Begriffe
der Liebe.

Hiſtoriſch iſt dieß ſchon dadurch erwieſen, daß die Idee
der Liebe keineswegs nur mit dem Chriſtenthum und durch
daſſelbe in das Bewußtſein der Menſchheit erſt kam, keines-
wegs eine nur chriſtliche iſt. Sinnvoll gehen der Erſcheinung
dieſer Idee die Greuel des römiſchen Reichs zur Seite. Das
Reich der Politik, das die Menſchheit auf eine ihrem Begriffe
widerſprechende Weiſe vereinte, mußte in ſich zerfallen. Die
politiſche Einheit iſt eine gewaltſame. Roms Despotismus
mußte ſich nach Innen wenden, ſich ſelbſt zerſtören. Aber
eben durch dieſes Elend der Politik zog ſich der Menſch ganz
aus der herzzerdrückenden Schlinge der Politik heraus. An
die Stelle Roms trat der Begriff der Menſchheit, damit an
die Stelle des Begriffs der Herrſchaft der Begriff der Liebe.
Selbſt die Juden hatten in dem Humanitätsprincip der grie-
chiſchen Bildung ihren gehäſſigen religiöſen Separatismus
gemildert. Philo feiert die Liebe als die höchſte Tugend. Es
lag im Begriffe der Menſchheit ſelbſt, daß die nationellen Dif-
ferenzen gelöſt wurden. Der denkende Geiſt hatte ſchon frühe
die civiliſtiſchen und politiſchen Trennungen des Menſchen
vom Menſchen überwunden. Ariſtoteles unterſcheidet wohl den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0383" n="365"/>
Aber &#x017F;olche Liebe, i&#x017F;t &#x017F;ie nicht eine chimäri&#x017F;che Liebe? Kann ich<lb/>
über den Begriff der Gattung hinaus? Höheres lieben als die<lb/>
Men&#x017F;chheit? Was Chri&#x017F;tus adelte, war die Liebe; was er war,<lb/>
hat er von ihr nur zu Lehen bekommen; er war nicht <hi rendition="#g">Pro-<lb/>
prietär</hi> der Liebe, wie er dieß in allen &#x017F;uper&#x017F;titiö&#x017F;en Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen i&#x017F;t. Der Begriff der Liebe i&#x017F;t ein &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändiger Be-<lb/>
griff, den ich nicht er&#x017F;t aus dem Leben Chri&#x017F;ti ab&#x017F;trahire; im<lb/>
Gegentheil ich anerkenne die&#x017F;es Leben nur, <hi rendition="#g">weil</hi> und <hi rendition="#g">wenn</hi><lb/>
ich es überein&#x017F;timmend finde mit dem Ge&#x017F;etze, dem Begriffe<lb/>
der Liebe.</p><lb/>
          <p>Hi&#x017F;tori&#x017F;ch i&#x017F;t dieß &#x017F;chon dadurch erwie&#x017F;en, daß die Idee<lb/>
der Liebe keineswegs nur mit dem Chri&#x017F;tenthum und durch<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe in das Bewußt&#x017F;ein der Men&#x017F;chheit er&#x017F;t kam, keines-<lb/>
wegs eine nur chri&#x017F;tliche i&#x017F;t. Sinnvoll gehen der Er&#x017F;cheinung<lb/>
die&#x017F;er Idee die Greuel des römi&#x017F;chen Reichs zur Seite. Das<lb/>
Reich der Politik, das die Men&#x017F;chheit auf eine ihrem Begriffe<lb/>
wider&#x017F;prechende Wei&#x017F;e vereinte, mußte in &#x017F;ich zerfallen. Die<lb/>
politi&#x017F;che Einheit i&#x017F;t eine <hi rendition="#g">gewalt&#x017F;ame</hi>. Roms Despotismus<lb/>
mußte &#x017F;ich nach Innen wenden, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zer&#x017F;tören. Aber<lb/>
eben durch die&#x017F;es Elend der Politik zog &#x017F;ich der Men&#x017F;ch ganz<lb/>
aus der herzzerdrückenden Schlinge der Politik heraus. An<lb/>
die Stelle Roms trat der Begriff der Men&#x017F;chheit, damit an<lb/>
die Stelle des Begriffs der Herr&#x017F;chaft der Begriff der Liebe.<lb/>
Selb&#x017F;t die Juden hatten in dem Humanitätsprincip der grie-<lb/>
chi&#x017F;chen Bildung ihren gehä&#x017F;&#x017F;igen religiö&#x017F;en Separatismus<lb/>
gemildert. Philo feiert die Liebe als die höch&#x017F;te Tugend. Es<lb/>
lag im Begriffe der Men&#x017F;chheit &#x017F;elb&#x017F;t, daß die nationellen Dif-<lb/>
ferenzen gelö&#x017F;t wurden. Der denkende Gei&#x017F;t hatte &#x017F;chon frühe<lb/>
die civili&#x017F;ti&#x017F;chen und politi&#x017F;chen Trennungen des Men&#x017F;chen<lb/>
vom Men&#x017F;chen überwunden. Ari&#x017F;toteles unter&#x017F;cheidet wohl den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0383] Aber ſolche Liebe, iſt ſie nicht eine chimäriſche Liebe? Kann ich über den Begriff der Gattung hinaus? Höheres lieben als die Menſchheit? Was Chriſtus adelte, war die Liebe; was er war, hat er von ihr nur zu Lehen bekommen; er war nicht Pro- prietär der Liebe, wie er dieß in allen ſuperſtitiöſen Vorſtel- lungen iſt. Der Begriff der Liebe iſt ein ſelbſtſtändiger Be- griff, den ich nicht erſt aus dem Leben Chriſti abſtrahire; im Gegentheil ich anerkenne dieſes Leben nur, weil und wenn ich es übereinſtimmend finde mit dem Geſetze, dem Begriffe der Liebe. Hiſtoriſch iſt dieß ſchon dadurch erwieſen, daß die Idee der Liebe keineswegs nur mit dem Chriſtenthum und durch daſſelbe in das Bewußtſein der Menſchheit erſt kam, keines- wegs eine nur chriſtliche iſt. Sinnvoll gehen der Erſcheinung dieſer Idee die Greuel des römiſchen Reichs zur Seite. Das Reich der Politik, das die Menſchheit auf eine ihrem Begriffe widerſprechende Weiſe vereinte, mußte in ſich zerfallen. Die politiſche Einheit iſt eine gewaltſame. Roms Despotismus mußte ſich nach Innen wenden, ſich ſelbſt zerſtören. Aber eben durch dieſes Elend der Politik zog ſich der Menſch ganz aus der herzzerdrückenden Schlinge der Politik heraus. An die Stelle Roms trat der Begriff der Menſchheit, damit an die Stelle des Begriffs der Herrſchaft der Begriff der Liebe. Selbſt die Juden hatten in dem Humanitätsprincip der grie- chiſchen Bildung ihren gehäſſigen religiöſen Separatismus gemildert. Philo feiert die Liebe als die höchſte Tugend. Es lag im Begriffe der Menſchheit ſelbſt, daß die nationellen Dif- ferenzen gelöſt wurden. Der denkende Geiſt hatte ſchon frühe die civiliſtiſchen und politiſchen Trennungen des Menſchen vom Menſchen überwunden. Ariſtoteles unterſcheidet wohl den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/383
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/383>, abgerufen am 05.12.2024.