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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Schrift. Und die Bibel hat, wie männiglich bekannt, die köstliche
Eigenschaft, daß man Alles in ihr findet, was man nur immer
finden will. Was einst, das steht natürlich jetzt nicht mehr
drinn. Das Princip der Stabilität ist längst auch aus der Bibel
verschwunden; so veränderlich die menschliche Meinung so ver-
änderlich ist die göttliche Offenbarung. Tempora mutantur.
Davon weiß auch die heilige Schrift ein Lied zu singen. Aber
das ist eben der Vorzug der christlichen Religion, daß man ihr
das Herz aus dem Leibe reißen und doch noch ein guter Christ
sein kann. Nur darf nicht der Name angetastet werden. In die-
sem Punkte sind auch die heutigen Christen noch sehr empfind-
lich; ja der Name ist es, worin noch allein die modernen
Christen mit den alten übereinstimmen. Wie einst der bloße
Name Christi Wunder wirkte, so auch jetzt noch; aber freilich
Wunder anderer, ja entgegengesetzter Art. Einst trieb nämlich
der Name Christi den Antichristen, jetzt treibt er umgekehrt
den Christen aus dem Menschen aus. Siehe über die
Metamorphosen der christlichen Wunder "Philosophie und
Christenthum v. L. F."


Das Geheimniß der Trinität ist das Geheimniß
des gesellschaftlichen Lebens
.

Unum Deum esse confitemur. Non sic unum Deum,
quasi solitarium, nec eundem, qui ipse sibi pater, sit
ipse filius, sed patrem verum, qui genuit filium ve-
rum
, i. e. Deum ex Deo ... non creatum, sed genitum.
Concil. Chalced
. (Carranza Summa 1559. p. 139.) Si
quis quod scriptum est: Faciamus hominem, non patrem
ad filium dicere, sed ipsum ad semetipsum asserit di-
xisse Deum, anathema sit. Concil. Syrmiense. (ibid.
p. 68.) Professio enim consortii sustulit intelligentiam
singularitatis, quod consortium aliquid nec potest esse
sibi ipsi solitario, neque rursum solitudo solitarii re-
cipit: faciamus ... Non solitario convenit dicere: facia-

Schrift. Und die Bibel hat, wie männiglich bekannt, die köſtliche
Eigenſchaft, daß man Alles in ihr findet, was man nur immer
finden will. Was einſt, das ſteht natürlich jetzt nicht mehr
drinn. Das Princip der Stabilität iſt längſt auch aus der Bibel
verſchwunden; ſo veränderlich die menſchliche Meinung ſo ver-
änderlich iſt die göttliche Offenbarung. Tempora mutantur.
Davon weiß auch die heilige Schrift ein Lied zu ſingen. Aber
das iſt eben der Vorzug der chriſtlichen Religion, daß man ihr
das Herz aus dem Leibe reißen und doch noch ein guter Chriſt
ſein kann. Nur darf nicht der Name angetaſtet werden. In die-
ſem Punkte ſind auch die heutigen Chriſten noch ſehr empfind-
lich; ja der Name iſt es, worin noch allein die modernen
Chriſten mit den alten übereinſtimmen. Wie einſt der bloße
Name Chriſti Wunder wirkte, ſo auch jetzt noch; aber freilich
Wunder anderer, ja entgegengeſetzter Art. Einſt trieb nämlich
der Name Chriſti den Antichriſten, jetzt treibt er umgekehrt
den Chriſten aus dem Menſchen aus. Siehe über die
Metamorphoſen der chriſtlichen Wunder „Philoſophie und
Chriſtenthum v. L. F.“


Das Geheimniß der Trinität iſt das Geheimniß
des geſellſchaftlichen Lebens
.

Unum Deum esse confitemur. Non sic unum Deum,
quasi solitarium, nec eundem, qui ipse sibi pater, sit
ipse filius, sed patrem verum, qui genuit filium ve-
rum
, i. e. Deum ex Deo … non creatum, sed genitum.
Concil. Chalced
. (Carranza Summa 1559. p. 139.) Si
quis quod scriptum est: Faciamus hominem, non patrem
ad filium dicere, sed ipsum ad semetipsum asserit di-
xisse Deum, anathema sit. Concil. Syrmiense. (ibid.
p. 68.) Professio enim consortii sustulit intelligentiam
singularitatis, quod consortium aliquid nec potest esse
sibi ipsi solitario, neque rursum solitudo solitarii re-
cipit: faciamus … Non solitario convenit dicere: facia-

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[397/0415] Schrift. Und die Bibel hat, wie männiglich bekannt, die köſtliche Eigenſchaft, daß man Alles in ihr findet, was man nur immer finden will. Was einſt, das ſteht natürlich jetzt nicht mehr drinn. Das Princip der Stabilität iſt längſt auch aus der Bibel verſchwunden; ſo veränderlich die menſchliche Meinung ſo ver- änderlich iſt die göttliche Offenbarung. Tempora mutantur. Davon weiß auch die heilige Schrift ein Lied zu ſingen. Aber das iſt eben der Vorzug der chriſtlichen Religion, daß man ihr das Herz aus dem Leibe reißen und doch noch ein guter Chriſt ſein kann. Nur darf nicht der Name angetaſtet werden. In die- ſem Punkte ſind auch die heutigen Chriſten noch ſehr empfind- lich; ja der Name iſt es, worin noch allein die modernen Chriſten mit den alten übereinſtimmen. Wie einſt der bloße Name Chriſti Wunder wirkte, ſo auch jetzt noch; aber freilich Wunder anderer, ja entgegengeſetzter Art. Einſt trieb nämlich der Name Chriſti den Antichriſten, jetzt treibt er umgekehrt den Chriſten aus dem Menſchen aus. Siehe über die Metamorphoſen der chriſtlichen Wunder „Philoſophie und Chriſtenthum v. L. F.“ Das Geheimniß der Trinität iſt das Geheimniß des geſellſchaftlichen Lebens. Unum Deum esse confitemur. Non sic unum Deum, quasi solitarium, nec eundem, qui ipse sibi pater, sit ipse filius, sed patrem verum, qui genuit filium ve- rum, i. e. Deum ex Deo … non creatum, sed genitum. Concil. Chalced. (Carranza Summa 1559. p. 139.) Si quis quod scriptum est: Faciamus hominem, non patrem ad filium dicere, sed ipsum ad semetipsum asserit di- xisse Deum, anathema sit. Concil. Syrmiense. (ibid. p. 68.) Professio enim consortii sustulit intelligentiam singularitatis, quod consortium aliquid nec potest esse sibi ipsi solitario, neque rursum solitudo solitarii re- cipit: faciamus … Non solitario convenit dicere: facia-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/415>, abgerufen am 05.12.2024.