tionen, welche diese Anerkennung der Natur zu einer nur scheinbaren, illusorischen machen. Der Unterschied zwischen den Ketzern und Rechtgläubigen ist nur der, daß diese indi- rect, verschlagen, heimlich sagten, was jene unumwunden, direct, aber eben deßwegen auf eine anstößige Weise aus- sprachen. Von der Materie läßt sich die Lust nicht absondern. Die materielle Lust ist nichts weiter als, so zu sagen, die Freude der Materie an sich selbst, die sich selbst bethä- tigende Materie. Jede Freude ist Selbstbethätigung, jede Lust Kraftäußerung, Energie. Jede organische Function ist im normalen Zustande mit Wohllust verbunden -- selbst das Athmen ist ein wohllüstiger Act, der nur deßwegen nicht als solcher empfunden wird, weil er ein ununterbrochener Proceß ist. Wer daher nur die Zeugung, die fleischliche Ver- mischung als solche, überhaupt das Fleisch als solches für rein, aber das sich selbst genießende Fleisch, die mit sinnlicher Lust verknüpfte fleischliche Vermischung für Folge der Erb- sünde und folglich selbst für Sünde erklärt, der anerkennt nur das todte, aber nicht lebendige Fleisch, der macht uns einen blauen Dunst vor, der verdammt, verwirft den Zeugungsact, die Materie überhaupt, aber unter dem Scheine, daß er sie nicht verwirft, daß er sie anerkennt. Die nicht heuchlerische, nicht verstellte -- die offenherzige, aufrichtige Anerkennung der Sinnlichkeit ist die Anerkennung des sinnlichen Genusses. Kurz wer, wie die Bibel, wie die Kirche, nicht die Fleischeslust anerkennt -- versteht sich die natürliche, nicht die widernatürliche -- der anerkennt nicht das Fleisch. Was nicht als Selbstzweck -- keineswegs darum auch als letzter Zweck -- anerkannt wird, das wird nicht anerkannt. Wer mir den Wein nur als Arznei erlaubt, verbietet mir den Genuß des Weines. Komme man nicht mit der freigebigen Spendung des Weines auf der Hochzeit zu Cana. Denn diese Scene versetzt uns ja unmittelbar durch die Verwandlung des Wassers in Wein über die Natur hinaus, auf das Gebiet des Supernaturalismus. Wo, wie im Chri-
Feuerbach. 27
tionen, welche dieſe Anerkennung der Natur zu einer nur ſcheinbaren, illuſoriſchen machen. Der Unterſchied zwiſchen den Ketzern und Rechtgläubigen iſt nur der, daß dieſe indi- rect, verſchlagen, heimlich ſagten, was jene unumwunden, direct, aber eben deßwegen auf eine anſtößige Weiſe aus- ſprachen. Von der Materie läßt ſich die Luſt nicht abſondern. Die materielle Luſt iſt nichts weiter als, ſo zu ſagen, die Freude der Materie an ſich ſelbſt, die ſich ſelbſt bethä- tigende Materie. Jede Freude iſt Selbſtbethätigung, jede Luſt Kraftäußerung, Energie. Jede organiſche Function iſt im normalen Zuſtande mit Wohlluſt verbunden — ſelbſt das Athmen iſt ein wohllüſtiger Act, der nur deßwegen nicht als ſolcher empfunden wird, weil er ein ununterbrochener Proceß iſt. Wer daher nur die Zeugung, die fleiſchliche Ver- miſchung als ſolche, überhaupt das Fleiſch als ſolches für rein, aber das ſich ſelbſt genießende Fleiſch, die mit ſinnlicher Luſt verknüpfte fleiſchliche Vermiſchung für Folge der Erb- ſünde und folglich ſelbſt für Sünde erklärt, der anerkennt nur das todte, aber nicht lebendige Fleiſch, der macht uns einen blauen Dunſt vor, der verdammt, verwirft den Zeugungsact, die Materie überhaupt, aber unter dem Scheine, daß er ſie nicht verwirft, daß er ſie anerkennt. Die nicht heuchleriſche, nicht verſtellte — die offenherzige, aufrichtige Anerkennung der Sinnlichkeit iſt die Anerkennung des ſinnlichen Genuſſes. Kurz wer, wie die Bibel, wie die Kirche, nicht die Fleiſchesluſt anerkennt — verſteht ſich die natürliche, nicht die widernatürliche — der anerkennt nicht das Fleiſch. Was nicht als Selbſtzweck — keineswegs darum auch als letzter Zweck — anerkannt wird, das wird nicht anerkannt. Wer mir den Wein nur als Arznei erlaubt, verbietet mir den Genuß des Weines. Komme man nicht mit der freigebigen Spendung des Weines auf der Hochzeit zu Cana. Denn dieſe Scene verſetzt uns ja unmittelbar durch die Verwandlung des Waſſers in Wein über die Natur hinaus, auf das Gebiet des Supernaturalismus. Wo, wie im Chri-
Feuerbach. 27
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tionen, welche dieſe Anerkennung der Natur zu einer nur
ſcheinbaren, illuſoriſchen machen. Der Unterſchied zwiſchen
den Ketzern und Rechtgläubigen iſt nur der, daß dieſe indi-
rect, verſchlagen, heimlich ſagten, was jene unumwunden,
direct, aber eben deßwegen auf eine anſtößige Weiſe aus-
ſprachen. Von der Materie läßt ſich die Luſt nicht abſondern.
Die materielle Luſt iſt nichts weiter als, ſo zu ſagen, die
Freude der Materie an ſich ſelbſt, die ſich ſelbſt bethä-
tigende Materie. Jede Freude iſt Selbſtbethätigung, jede
Luſt Kraftäußerung, Energie. Jede organiſche Function
iſt im normalen Zuſtande mit Wohlluſt verbunden — ſelbſt
das Athmen iſt ein wohllüſtiger Act, der nur deßwegen nicht
als ſolcher empfunden wird, weil er ein ununterbrochener
Proceß iſt. Wer daher nur die Zeugung, die fleiſchliche Ver-
miſchung als ſolche, überhaupt das Fleiſch als ſolches für rein,
aber das ſich ſelbſt genießende Fleiſch, die mit ſinnlicher
Luſt verknüpfte fleiſchliche Vermiſchung für Folge der Erb-
ſünde und folglich ſelbſt für Sünde erklärt, der anerkennt
nur das todte, aber nicht lebendige Fleiſch, der macht
uns einen blauen Dunſt vor, der verdammt, verwirft den
Zeugungsact, die Materie überhaupt, aber unter dem
Scheine, daß er ſie nicht verwirft, daß er ſie anerkennt.
Die nicht heuchleriſche, nicht verſtellte — die offenherzige,
aufrichtige Anerkennung der Sinnlichkeit iſt die Anerkennung
des ſinnlichen Genuſſes. Kurz wer, wie die Bibel, wie die
Kirche, nicht die Fleiſchesluſt anerkennt — verſteht ſich die
natürliche, nicht die widernatürliche — der anerkennt nicht
das Fleiſch. Was nicht als Selbſtzweck — keineswegs
darum auch als letzter Zweck — anerkannt wird, das wird
nicht anerkannt. Wer mir den Wein nur als Arznei erlaubt,
verbietet mir den Genuß des Weines. Komme man nicht
mit der freigebigen Spendung des Weines auf der Hochzeit zu
Cana. Denn dieſe Scene verſetzt uns ja unmittelbar durch
die Verwandlung des Waſſers in Wein über die Natur hinaus,
auf das Gebiet des Supernaturalismus. Wo, wie im Chri-
Feuerbach. 27
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/435>, abgerufen am 05.12.2024.
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