Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.forscht *), und sich nicht schon die Resultate vorge- nach- *) Der Philosoph bedarf nicht bloss des Wahrheitssinnes, son- dern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, dass er nicht durch seine Sophistikationen, deren er sich selbst wohl bewusst ist, von denen er aber etwa glaubt, dass sie keiner seiner Zeitgenossen entdecken werde, die schon vorausgesetz- ten Resultate zu behaupten suchen solle; dann weiss er selbst dass er die Wahrheit nicht liebt. Doch ist hierüber jeder eige- ner Richter, und kein Mensch hat ein Recht, einen andern Menschen dieser Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzei- gen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die un- wilkührlichen Sophistikationen, denen kein Forscher mehr aus- gesetzt ist, als der Erforscher des menschlichen Geistes, muss er auf seiner Hut seyn: er muss es nicht nur dunkel fühlen, son- dern es zum klaren Bewusstseyn und zu seiner höchsten Maxime erheben, dass er nur Wahrheit suche, wie sie auch ausfalle und dass selbst die Wahrheit, dass es überall keine Wahrheit gebe, ihm willkommen seyn würde, wenn sie nur Wahrheit wäre. Kein Satz, so trocken und so spitzfindig er aussehe, muss ihm gleichgültig -- alle müssen ihm gleich heilig seyn, weil sie in das eine System der Wahrheit gehören, und jeder alle unterstützt. Er muss nie fragen: was wird hieraus folgen? sondern seines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen möge. Er muss keine Mühe scheuen, und sich dennoch bestän- dig in der Fähigkeit erhalten die mühsamsten und tiefsinnigsten Arbeiten aufzugeben, so bald ihm die Grundlosigkeit dersel- ben entweder gezeigt wird, oder er sie selbst entdekt. Und wenn er sich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr? was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemein- schaftliche Loos? D 5
forſcht *), und ſich nicht ſchon die Reſultate vorge- nach- *) Der Philoſoph bedarf nicht bloſs des Wahrheitsſinnes, ſon- dern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, daſs er nicht durch ſeine Sophiſtikationen, deren er ſich ſelbſt wohl bewuſst iſt, von denen er aber etwa glaubt, daſs ſie keiner ſeiner Zeitgenoſſen entdecken werde, die ſchon vorausgeſetz- ten Reſultate zu behaupten ſuchen ſolle; dann weiſs er ſelbſt daſs er die Wahrheit nicht liebt. Doch iſt hierüber jeder eige- ner Richter, und kein Menſch hat ein Recht, einen andern Menſchen dieſer Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzei- gen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die un- wilkührlichen Sophiſtikationen, denen kein Forſcher mehr aus- geſetzt iſt, als der Erforſcher des menſchlichen Geiſtes, muſs er auf ſeiner Hut ſeyn: er muſs es nicht nur dunkel fühlen, ſon- dern es zum klaren Bewuſstſeyn und zu ſeiner höchſten Maxime erheben, daſs er nur Wahrheit ſuche, wie ſie auch ausfalle und daſs ſelbſt die Wahrheit, daſs es überall keine Wahrheit gebe, ihm willkommen ſeyn würde, wenn ſie nur Wahrheit wäre. Kein Satz, ſo trocken und ſo ſpitzfindig er ausſehe, muſs ihm gleichgültig — alle müſſen ihm gleich heilig ſeyn, weil ſie in das eine Syſtem der Wahrheit gehören, und jeder alle unterſtützt. Er muſs nie fragen: was wird hieraus folgen? ſondern ſeines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen möge. Er muſs keine Mühe ſcheuen, und ſich dennoch beſtän- dig in der Fähigkeit erhalten die mühſamſten und tiefſinnigſten Arbeiten aufzugeben, ſo bald ihm die Grundloſigkeit derſel- ben entweder gezeigt wird, oder er ſie ſelbſt entdekt. Und wenn er ſich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr? was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemein- ſchaftliche Loos? D 5
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forſcht *), und ſich nicht ſchon die Reſultate vorge-
ſetzt zu haben, ſo kann man ſich mit dieſer Wahr-
ſcheinlichkeit gar wohl begnügen, und darf von jedem,
der die Zuverläſſigkeit unſers Syſtems in Zweifel zieht,
fordern, daſs er uns die Fehler in unſern Folgerungen
nach-
*) Der Philoſoph bedarf nicht bloſs des Wahrheitsſinnes, ſon-
dern auch der Wahrheitsliebe. Ich rede nicht davon, daſs er
nicht durch ſeine Sophiſtikationen, deren er ſich ſelbſt wohl
bewuſst iſt, von denen er aber etwa glaubt, daſs ſie keiner
ſeiner Zeitgenoſſen entdecken werde, die ſchon vorausgeſetz-
ten Reſultate zu behaupten ſuchen ſolle; dann weiſs er ſelbſt
daſs er die Wahrheit nicht liebt. Doch iſt hierüber jeder eige-
ner Richter, und kein Menſch hat ein Recht, einen andern
Menſchen dieſer Unlauterkeit zu bezüchtigen, wo die Anzei-
gen nicht ganz offen da liegen. Aber auch gegen die un-
wilkührlichen Sophiſtikationen, denen kein Forſcher mehr aus-
geſetzt iſt, als der Erforſcher des menſchlichen Geiſtes, muſs er
auf ſeiner Hut ſeyn: er muſs es nicht nur dunkel fühlen, ſon-
dern es zum klaren Bewuſstſeyn und zu ſeiner höchſten Maxime
erheben, daſs er nur Wahrheit ſuche, wie ſie auch ausfalle
und daſs ſelbſt die Wahrheit, daſs es überall keine Wahrheit
gebe, ihm willkommen ſeyn würde, wenn ſie nur Wahrheit
wäre. Kein Satz, ſo trocken und ſo ſpitzfindig er ausſehe, muſs
ihm gleichgültig — alle müſſen ihm gleich heilig ſeyn, weil
ſie in das eine Syſtem der Wahrheit gehören, und jeder alle
unterſtützt. Er muſs nie fragen: was wird hieraus folgen?
ſondern ſeines Weges gerade fortgehen, was auch immer folgen
möge. Er muſs keine Mühe ſcheuen, und ſich dennoch beſtän-
dig in der Fähigkeit erhalten die mühſamſten und tiefſinnigſten
Arbeiten aufzugeben, ſo bald ihm die Grundloſigkeit derſel-
ben entweder gezeigt wird, oder er ſie ſelbſt entdekt. Und
wenn er ſich denn auch verrechnet hätte, was wäre es mehr?
was träfe ihn weiter, als das bis jetzt allen Denkern gemein-
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