Wirklichkeitsmaterial für das Denken nur so schlechthin zu finden wäre, so daß dieses jedes Einzelne nur zu bezeichnen brauchte, um das gesammte in der Vorstellung gegebene Sein in diejenige Form zu bringen, die seinen eigenen Gesetzen entspräche; anderentheils daß die in unserem Be¬ wußtsein auftretenden und mehr oder weniger die Denk¬ vorgänge begleitenden sinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬ stellungsvorgänge so wenig eine rein geistige Existenz haben können, wie das Denken selbst: so vermögen wir das, was wir das sinnliche Phänomen der Wirklichkeit nennen, un¬ befangener zu prüfen.
Wir sehen, daß man verhältnißmäßig leicht zu der Einsicht in die Phänomenalität der sinnlichen Wirklichkeit gelangt, und daß man sich dabei beruhigt, an die Stelle einer an sich vorhandenen Welt eine vorgestellte Wirklich¬ keit zu setzen. Man streift damit aber keineswegs allen Trug ab, in dem man sich sozusagen naturgemäß befindet. Gleichwie man sich schwer von der Ueberzeugung losmacht, daß das Wort, der Begriff etwas vertrete, bedeute, was auch abgesehen von Wort und Begriff vorhanden sei, so bleibt im Grunde doch auch die Meinung bestehen, daß alle Wahrnehmung und Vorstellung doch nur Kunde, oft¬ mals mangelhafte und trügerische Kunde gebe von etwas, was unabhängig von allen Wahrnehmung und Vorstellung existire. Dieses ist ein Irrthum so gut wie jenes. Es giebt für uns kein sinnliches Sein, welches nicht Wahr¬ nehmung und Vorstellung wäre, und alles Verhältniß von Wahrnehmung und Vorstellung zur Wirklichkeit ist doch
Wirklichkeitsmaterial für das Denken nur ſo ſchlechthin zu finden wäre, ſo daß dieſes jedes Einzelne nur zu bezeichnen brauchte, um das geſammte in der Vorſtellung gegebene Sein in diejenige Form zu bringen, die ſeinen eigenen Geſetzen entſpräche; anderentheils daß die in unſerem Be¬ wußtſein auftretenden und mehr oder weniger die Denk¬ vorgänge begleitenden ſinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬ ſtellungsvorgänge ſo wenig eine rein geiſtige Exiſtenz haben können, wie das Denken ſelbſt: ſo vermögen wir das, was wir das ſinnliche Phänomen der Wirklichkeit nennen, un¬ befangener zu prüfen.
Wir ſehen, daß man verhältnißmäßig leicht zu der Einſicht in die Phänomenalität der ſinnlichen Wirklichkeit gelangt, und daß man ſich dabei beruhigt, an die Stelle einer an ſich vorhandenen Welt eine vorgeſtellte Wirklich¬ keit zu ſetzen. Man ſtreift damit aber keineswegs allen Trug ab, in dem man ſich ſozuſagen naturgemäß befindet. Gleichwie man ſich ſchwer von der Ueberzeugung losmacht, daß das Wort, der Begriff etwas vertrete, bedeute, was auch abgeſehen von Wort und Begriff vorhanden ſei, ſo bleibt im Grunde doch auch die Meinung beſtehen, daß alle Wahrnehmung und Vorſtellung doch nur Kunde, oft¬ mals mangelhafte und trügeriſche Kunde gebe von etwas, was unabhängig von allen Wahrnehmung und Vorſtellung exiſtire. Dieſes iſt ein Irrthum ſo gut wie jenes. Es giebt für uns kein ſinnliches Sein, welches nicht Wahr¬ nehmung und Vorſtellung wäre, und alles Verhältniß von Wahrnehmung und Vorſtellung zur Wirklichkeit iſt doch
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[42/0054]
Wirklichkeitsmaterial für das Denken nur ſo ſchlechthin zu
finden wäre, ſo daß dieſes jedes Einzelne nur zu bezeichnen
brauchte, um das geſammte in der Vorſtellung gegebene
Sein in diejenige Form zu bringen, die ſeinen eigenen
Geſetzen entſpräche; anderentheils daß die in unſerem Be¬
wußtſein auftretenden und mehr oder weniger die Denk¬
vorgänge begleitenden ſinnlichen Wahrnehmungs- und Vor¬
ſtellungsvorgänge ſo wenig eine rein geiſtige Exiſtenz haben
können, wie das Denken ſelbſt: ſo vermögen wir das, was
wir das ſinnliche Phänomen der Wirklichkeit nennen, un¬
befangener zu prüfen.
Wir ſehen, daß man verhältnißmäßig leicht zu der
Einſicht in die Phänomenalität der ſinnlichen Wirklichkeit
gelangt, und daß man ſich dabei beruhigt, an die Stelle
einer an ſich vorhandenen Welt eine vorgeſtellte Wirklich¬
keit zu ſetzen. Man ſtreift damit aber keineswegs allen
Trug ab, in dem man ſich ſozuſagen naturgemäß befindet.
Gleichwie man ſich ſchwer von der Ueberzeugung losmacht,
daß das Wort, der Begriff etwas vertrete, bedeute, was
auch abgeſehen von Wort und Begriff vorhanden ſei, ſo
bleibt im Grunde doch auch die Meinung beſtehen, daß
alle Wahrnehmung und Vorſtellung doch nur Kunde, oft¬
mals mangelhafte und trügeriſche Kunde gebe von etwas,
was unabhängig von allen Wahrnehmung und Vorſtellung
exiſtire. Dieſes iſt ein Irrthum ſo gut wie jenes. Es
giebt für uns kein ſinnliches Sein, welches nicht Wahr¬
nehmung und Vorſtellung wäre, und alles Verhältniß von
Wahrnehmung und Vorſtellung zur Wirklichkeit iſt doch
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/54>, abgerufen am 16.02.2025.
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